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Bedrohung, Spuren und Eroberung

»Flexen. Flâneusen* schreiben Städte«: Ein Buch über das Umherstreifen jenseits der vorgezeichneten Grenzen

  • Seyda Kurt
  • Lesedauer: 5 Min.

Flexen, ein Wort, sechs Buchstaben, ein semantisches Überraschungspaket: Trennschleifen kann es bedeuten. Biegen oder seine Muskeln zur Schau stellen. Oder auch Sex haben. Ein Wort, dessen Sinngehalt so vielseitig ist, wie das, was in dem Buch »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte« geschieht: 30 Frauen, People of Color und queere Menschen erforschen in ihren Texten Städte, sich selbst und ein literarisches Genre jenseits der vorgezeichneten Grenzen. Das kürzlich erschienene Sammelwerk verrät nämlich schon gleich zu Beginn, was Flexen auch bedeuten kann: das erforschende Umherstreifen durch Räume, die uns umgeben. Die Flâneuserie also.

Doch ein Raum ist nicht nur ein geografischer in physischer Ausdehnung. Räume sind auch soziale Zonen, unsichtbare Sektoren von Möglichkeiten, wie die Welt auch sein könnte. Räume sind gefüllt von Selbstbehauptungen, Gegenbehauptungen und manchmal gar keinen Behauptungen, sondern nur Fragen: »Aber ist das jetzt ein neuer Anfang?« fragt etwa Gerhild Steinbuch in ihrem Text »Friendly Fire« in »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte«: »Nein natürlich nicht. Aber eine Schwelle ist das immerhin.«

Die Tatsache, dass die Autor*innen nicht ausschließlich weiß, männlich und heterosexuell sind, ist tatsächlich eine Überschreitung innerhalb dieser literarischen Tradition. Denn die Figur des sogenannten Flâneurs wurde seit dem 19. Jahrhundert genau über und gleichzeitig durch die Brille dieser Eigenschaften erzählt. Das vermeintlich weibliche Äquivalent, die Passante, war gar keins. Denn diese Spaziergängerin war lediglich Objekt der Beobachtung, der Reflexion und Begierde. In André Bretons »Nadja« (Erstfassung: 1928) verfolgt ein Mann etwa, ein Flâneur, eine Frau.

In den Texten in »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte« geht es um vieles: Es geht um die Bedrohung, der Frauen und queere Menschen im öffentlichen Raum ausgesetzt sind, um Übergriffigkeiten, aber auch um die selbstbestimmte (Rück)Eroberung der Straße. Es geht um die Spuren des Nationalsozialismus im Stadtbild, um Gentrifizierung und Prekarisierung, wie etwa in dem Text von Nadire Y. Biskin über den Berliner Stadtteil Wedding. Intersektionale Aspekte des Zusammenlebens spielen eine Rolle, wenn es etwa um das Älterwerden in einer Stadt geht, die zwar mit ergraut, aber nicht mitaltern will: »Zukunftsvisionen: Wenn Mütter Städte entwickeln würden, gäbe es überall Rampen für Kinderwagen, breite Bürgersteige, autofreie Zonen«, schreibt Svenja Reiner in dem Essay »Otis«: »Wenn Rentner Städte entwickeln würden, gäbe es Bänke. Und wenn man einsähe, dass Obdachlose auch Menschen sind: Bänke ohne Sitztrenner.«

Es sind Positionen, die abweichen, die in der Regel als Störfaktor im öffentlichen Raum wahrgenommen werden, weil sie vermeintlich zu arm, zu prekär, zu verletzlich, zu ehrlich, eben unerwünscht sind. Jeder einzelnen von ihnen steht ohne Frage zu, in dieser Anthologie repräsentiert zu werden. Dennoch: Zwischenzeitlich kann es sein, dass man die Texte mechanisch vorspulen möchte. Dabei sollen sie doch knistern und aufrütteln! Das können sie auch, doch scheinen manche in der unübersichtlichen Menge der Texte unterzugehen: dreißig sind es insgesamt, ein Vorwort und ein Interview kommen noch hinzu.

Die Autor*innen Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer, die allesamt am Literaturinstitut in Leipzig studierten, haben »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte« im Verbrecher Verlag herausgegeben und auch selbst Beiträge verfasst: Özlem Özgül Dündar hat etwa »Die Luders« beigesteuert, eine zärtlich brutale Kurzgeschichte über Freund*innenschaft und Lea Sauer einen großartigen Text aus der Ich-Perspektive über häusliche Gewalt, die nur häuslich bleibt, nur in dieser Kategorie beschrieben werden muss, weil die Öffentlichkeit, das Außen, keine Notiz davon nimmt.

Die Flâneuserie ist eine investigative Methodologie. Auch in »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte« wird gesammelt und archiviert: alles, was das Auge erblickt, alles, was in die Ohren dringt, alles, was die eigene Biografie mitbringt. Die Fragmente ergeben am Ende vielleicht ein Gesamtbild, vielleicht auch nicht. Darauf kommt es gar nicht so an, ganz im Gegenteil.

Die Herausgeberin und Autorin Ronya Othmann las im Juni dieses Jahres beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt den Text »Vierundsiebzig«, in dem die Protagonistin und Ich-Erzählerin Ronya von ihrer Reise in den Shingal in der autonomen Region Kurdistan im Irak erzählt, wo der sogenannte Islamischen Staat (IS) 2014 einen Völkermord an Êzîd*innen beging.

»Vierundsiebzig« wurde mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Die Jury und das Feuilleton diskutierten, mit welcher Art von Text sie es denn da eigentlich zu tun hätten. Denn er vereinte Reportageelemente mit einer Erzählperspektive, die angesichts des Traumas und dem Versuch, das Unsagbare zu verbalisieren, das eigene Erzählen, das manchmal unzuverlässig, manchmal unzureichend erscheint, essayistisch reflektierte.

Ist es Fiktion oder Dokumentation? Kunst oder Journalismus? Eine Frage, die auch beim Lesen von »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte« auftauchen kann, zumal an Labels wie queer oder of Color im literarischen Kontext oftmals der Anspruch gestellt wird, sie müssten möglichst authentisch sein, die Autor*innenschaft transparent machen und auf eigenes Erleben zurückgreifen. Doch das ist Unsinn. Die Herausgeber*innen und Autor*innen etablieren hier einen neuen Blick auf die Welt. Dieser ist seit jeher konstruiert, Wirklichkeiten sind schon immer montiert, egal, wie sie beschaffen sind.

»Ich flexe. Ich flexe mich in die Stadt, durch die Stadt. Ich flexe mir die Stadt zurecht«, heißt es im Vorwort zum Sammelband. Dann rennen die Worte gleichsam los, holen sich ein und überstürzen sich wie Menschen, die durch Städte und durch die Zeit stolpern. Um noch mal auf Gerhild Steinbuchs Text »Friendly Fire« zurück zu kommen: »Wir wandern immer weiter, wir machen immer weiter, wir ziehen immer weiter, wir gehen immer weiter, wie die Geschichte weitergeht, das Leben das Reden das Vorwärts, wir fangen an, wir fangen immer von vorne an.« Die Erzählstimme schwankt von Absatz zu Absatz zwischen einem »Wir«, »Du« und auch mal einem »Ich«. Fragmentierte Identitäten spiegeln sich in fragmentierten Gedanken, am Ende bleibt ein Fragezeichen. Wirkt auch dieser Versuch der Beschreibung wie ein Rätsel? Da hilft nichts, außer: selber lesen.

Özlem Özgül Dündar/ Ronya Othmann, Mia Göhring/ Lea Sauer (Hg.): »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte«, Verbrecher Verlag, 272 S., br., 18 €.

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