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  • Olympia 2008 - noch 134 Tage

Die Zweifel der Tänzer

Auf Pekings Straßen herrscht kaum Verständnis für die rebellierenden Tibeter

  • Anna Guhl, Peking
  • Lesedauer: 6 Min.
Es ist noch früh an diesem Samstagmorgen, doch auf dem Sportplatz in unmittelbarer Nähe meines Wohngebietes herrscht bereits emsiges Treiben. Von den Unruhen im fernen Tibet ist hier nichts zu spüren. Das Leben in Peking geht weiter. Die Vorbereitungen auf Olympia laufen auf Hochtouren: Auf allen Baustellen in der Stadt scheint das Tempo noch einmal angezogen zu haben.

Tausende von zusätzlichen Arbeitskräften wurden angeworben, unter ihnen auch ungewöhnlich viele Frauen. Mit ihren bunten Jacken und Helmen fallen sie besonders auf. Für die letzten Handgriffe an Sportstätten und Serviceeinrichtungen, neuen Autotrassen und U-Bahnlinien scheint die chinesische Führung wohl jede noch zur Verfügung stehende Kraft mobilisieren zu wollen.

Herr Wang hat inzwischen seinen kleinen Kassettenrekorder am Rande des Platzes aufgestellt und die Lautsprecher gerichtet. Sogleich formieren sich mehrere Paare, die im Takt der weithin klingenden Musik eine flotte Sohle auf den harten Steinboden legen. Dem guten Dutzend Damen und Herren scheint weder die ungemütliche Kälte an diesem Morgen noch die provisorische Umgebung etwas auszumachen. Sie drehen und wenden sich voller Hingabe und Konzentration, als stünden sie in einem Ballsaal. Auch Herr Wang gesellt sich zu den Tanzenden.

Normalität herrscht nur scheinbar
Jeden Morgen sei er hier, erzählt mir Herr Wang, und seit Olympia vor der Tür steht, sind alle Tänzer erst recht bei der Sache. Sie wollen zum olympischen Gedanken beitragen, auch wenn Gesellschaftstanz, wie sie ihn betreiben, kein Bestandteil des olympischen Wettbewerbsprogramm ist. »Wir sind alle weit über 50«, erklärt mir Frau Wang, »wir treffen uns regelmäßig, um einfach fit zu bleiben, und um zu Hause nicht zu vereinsamen.«

Doch die Normalität auf Pekings Straßen trügt. Die Präsenz von Polizei und Sicherheitskräften in der Innenstadt hat spürbar zugenommen. An allen Zufahrtsstraßen nach Peking sind die Kontrollen verstärkt worden. Wer das Stadtgebiet verlässt und in die benachbarte Provinz fahren will, muss neuerdings seinen Personalausweis vorzeigen. Auch Herrn Wang und seinen Tanzpartnern machen die Bilder Angst, die das chinesische Staatsfernsehen täglich aus Tibet und den angrenzenden Provinzen überträgt. Und die beschwichtigenden Meldungen der hiesigen Presse, das Leben in Lhasa habe sich wieder normalisiert und die Lage sei stabil und unter Kontrolle, können sie nicht so richtig beruhigen.

Woher nur, so fragen sie sich, kommt diese plötzliche Gewalt? In Tibet hat man doch ebenso von dem Aufschwung im Land und dem hohen Wirtschaftswachstum profitiert. Gerade in den letzten Jahren habe die Zentralregierung dort so viel investiert. Mehr als zwölf Prozent soll die Wirtschaft seit 2000 gewachsen sein. »Was hat es denn früher dort gegeben außer ein paar Klöstern und Tempeln?«, ereifert sich Herr Wang. »Das sind zumeist Nomaden, was verstehen die schon von moderner Produktion und der Verwaltung einer neuen Gesellschaft?« »Was haben wir nicht alles in Tibet neu geschaffen!«, pflichtet ihm seine Frau bei. In Tibets Hauptstadt Lhasa gebe es heute nicht weniger Hochhäuser oder breite Straßen als in anderen Provinzhauptstädten des Landes. Eine völlig neue Infrastruktur sei in Tibet aus dem Boden gestampft worden. Ganz zu schweigen von der wahnsinnig teuren Eisenbahn. »Dank dieser können sich die Tibeter heute auch frisches Gemüse und Obst leisten, wann gab es das je zuvor?«

Der alte Li gesellt sich zu uns und erzählt von seinem Sohn, der seit Jahren in Tibet sogenannte Aufbauhilfe leistet. Sicher, der Junge hat ein gutes Auskommen, aber dem alten Li und seiner Frau wäre es viel lieber, wenn die Familie wieder zusammen wäre. Was müssten sie dort nicht alles entbehren, allein, wenn er an das raue Klima denke, schüttelt der alte Li traurig den Kopf. Aber der Sohn habe sich nun einmal verpflichtet, für mehrere Jahre dort an der Einrichtung von modernen Verwaltungsstrukturen zu arbeiten.

Nein, diese Brutalität der letzten Tage kann hier in der Hauptstadt niemand so richtig verstehen. Seit Jahren war dort Ruhe und Frieden. Und Tibet erfreute sich unter den Chinesen immer größerer Beliebtheit als Urlaubsziel. Wer richtig Geld hat, der bucht eine Zugfahrt von Peking quer durch das große Reich nach Lhasa. Die Tickets sind begehrt und nur Monate im Voraus, wenn überhaupt, zu ergattern. Vor allem die Tibeter profitieren doch von dem blühenden Tourismus, ist die einhellige Meinung meiner Gesprächspartner.

Woher also dieser Hass? Erinnerungen an den Frühsommer 1989 werden laut. »Damals sind wir mit den rebellierenden Studenten auch fertig geworden«, wirft ein gewisser Herr Zhang ein, »dann werden wir heute doch die aufständischen Tibeter in den Griff bekommen.« Was er da eben Ungeheuerliches gesagt hat, ist offenbar allen bewusst, betreten wird geschwiegen.

»Das kann nur vom Dalai Lama und seinen Anhängern im Ausland inszeniert sein«, unterbricht Herr Wang die angespannte Stille. Er habe erst kürzlich in der hiesigen Presse gelesen, dass weder in der Vergangenheit noch jetzt irgendein Staat auf dieser Welt ein unabhängiges Tibet je anerkannt habe. »Deine Regierung«, spricht er mich direkt an, »hat doch auch erst vor kurzem erklärt, dass sie am Ein-China-Prinzip festhält. Warum tut ihr dann nichts gegen den Dalai Lama. Es sind auch eure Spiele!«

Ja, es sind auch unsere Olympischen Spiele, und deshalb fühlt sich die Außenwelt ja so verantwortlich und will wissen, was in Tibet wirklich passiert ist. Denn nachdem nur eine Handvoll ausgewählter Journalisten nach Lhasa reisen durfte, sind auch wir Ausländer in Peking vorwiegend auf die Bilder des chinesischen Staatsfernsehens angewiesen. Sicher, die zeitliche Nähe des Ausbruchs der Unruhen zu Olympia ist wohl nicht zufällig. Angesichts des hohen Alters des Dalai Lama und der wachsenden Entfremdung der Exiltibeter von ihrer Heimat sind die bevorstehenden Spiele in Peking ein willkommener Anlass für das Vorbringen ihrer Forderungen nach wirklicher kultureller Autonomie und eigenständiger Verwaltung im chinesischen Zentralstaat. Und ihr Ansinnen fällt vor allem bei den jungen Tibetern im Inland auf sehr fruchtbaren Boden. Denn zusätzlich zu den ohnehin in der chinesischen Gesellschaft wachsenden sozialen Differenzen und Ungleichheiten kommt es gerade in Tibet, aber auch im uigurischen Xinjiang, immer wieder zu Spannungen zwischen den Han-Chinesen und den einheimischen Minderheiten.

Rasanter Fortschrittsdrang
Stolz und stark verwurzelt in ihren Traditionen, ihrer einzigartigen Kultur und Religion, haben die Tibeter dem rasanten Fortschrittsdrang der Chinesen nur wenig entgegen zu setzen. Das aus chinesischer Sicht so rückständige Tibet müsse eben notfalls auch mit Nachdruck und Zwang industrialisiert und modernisiert werden. Darauf achtet auch die Partei im fernen Peking, die wie einst zu Kaisers Zeiten ihren »Statthalter« sorgfältig auswählt und nach Lhasa beordert. An diesem Modell hat sich bis heute nichts geändert, Korruption und Beamtenwillkür eingeschlossen. Und all die ohnehin aufgrund der großen kulturellen Verschiedenheit bestehenden Ressentiments auf beiden Seiten werden so im täglichen Umgang immer wieder aufs Neue geschürt und durchaus zementiert.

Denn wohin sich die tibetische Bevölkerung auch begibt, ob in den Laden nebenan, auf den Gemüsemarkt an der Ecke, zur Bank, in die Schule oder ins Krankenhaus, überall haben Han-Chinesen das Sagen. Tibeter sind bestenfalls Angestellte, helfen mit, werden eingesetzt und in der Saison gern zur Präsentation ihrer Sehenswürdigkeiten engagiert.

Und noch etwas: Natürlich sind Preissteigerungen und Inflation aus dem fernen Peking inzwischen auch in Lhasa angekommen. In Tibet wurde das tägliche Leben in den letzten Monaten immer teurer. Der Verdienst aus der letzten Saison ist aufgebraucht. Und die diesjährige Tourismussaison hat noch nicht begonnen. Dann erst wird wieder jede Hand dringend benötigt. Da reichte nur ein kleiner Anstoß, um den Flächenbrand der letzten Tage zu entfachen.

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