Produktive Vernunft

Die Lebensschule des Erich Fromm

  • Jürgen Meier
  • Lesedauer: 4 Min.

Jede direkte Begegnung hat eine die Empathie stärkende Wirkung.« Und diese Empathie zu stärken, ist ein wesentlicher Kern der Lebensschule Fromms. Das »produktive Ich« soll hier gestärkt werden durch das Ansprechen von Konflikten, durch gezieltes Alleinsein, durch unmittelbare Bezogenheit auf andere Menschen. Das »starke Ich« kann die eigene Wirklichkeit und die uns umgebende klar unterscheiden. Es trennt, anders als das »unproduktive Ich«, die Vorstellungswelt von der konkreten Wirklichkeit.

Rainer Funk, der von den direkten Begegnungen mit seinem Lehrer Erich Fromm zehrt, die seinen eigenen Blick für die menschliche Wirklichkeit verstärkten, hält den Ich-Orientierten wie den Marketing-Orientierten Menschen, die in unserer Gesellschaft die Norm sind, nicht nur einen Spiegel vor, sondern er vermittelt seinen Lesern, dass er sich selbst vor diesem Spiegel sieht, aber täglich daran arbeitet, nicht der gesellschaftlichen Charakterorientierung auf den Leim zu kriechen, die von uns verlangt, unsere produktiven Fähigkeiten zugunsten eines abstrakten Marktes und eines brutalen Konkurrenzkampfes aufzugeben.

Das Buch ist ein Plädoyer für das »produktive Ich«, das die Fähigkeit beherrscht, sich selbst zum Objekt der Erkenntnis machen zu können und das nicht im eitlen Wettkampf des Marktes Fehler gern bei anderen geißelt, aber sich selbst sentimental verherrlicht. Produktive Vernunft nennt der Autor diese Fähigkeit. Diese Vernunft ermöglicht den Blick auf die Totalität des gesellschaftlichen Seins.

Die 68er Generation, so der Autor, traute sich noch, an dem Ganzen, an der Gesellschaft, zu leiden und wollte sie deshalb verändern. Dies »ist in einer Gesellschaft, die vor allem positiv denken und fühlen will und erlebnishungrig ist, nicht erwünscht.« Funk kritisiert den Neopositivismus, der heute in fast allen Wissenschaftsbetrieben und Medien die Herrschaft übernommen hat. Das verdient in dem eher auf Marketing und Ich-Orientierung angelegten Psychologiebetrieb besondere Anerkennung. Funk vertritt eine Psychologie der Rebellion.

Die Lebensschule Fromms blickt anders als Marx in das Ganze des gesellschaftlichen Seins. Er wie auch sein Geistesgefährte Funk wollen nicht das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft analysieren, sondern zeigen, wie dieses Fundament jeden von uns prägt. Wie können wir, trotz kapitalistischer objektiver Gesetze, in die wir als Verkäufer oder Käufer der Ware Arbeitskraft, als Schüler, Student, Rentner oder Hausfrau eingebunden sind, trotz dieser Entfremdungen von echter menschlicher Bezogenheit, dennoch unser Ich stärken? Das sind die Fragen der Lebensschule Fromms, die kein kritischer Mensch mit dem Hinweis auf Fromms buddhistische Neigungen verdrängen sollte.

Zur Stärkung des Ichs könne die Selbstanalyse beitragen, so Funk. Aber auch die Traumdeutung sei wichtig, versteckt sich doch in jedem Traum, wie in der freien Assoziation, der Fehlleistung und Übertragung, eine persönliche Botschaft die es ganz ohne Schönfärberei zu entschlüsseln gilt. Wer sich nur, sei es noch so kritisch, mit der ihm äußeren Welt beschäftigt, wird ohne Selbstanalyse leicht zu einem Spielball fremder Mächte und eigener unproduktiver Ich-Orientierungen, die sich als Eitelkeiten, Rechthabereien hinter klugen oder revolutionären Thesen nur gar zu leicht verstecken können.

Sicher deuten die Hinweise Funks, »dem menschlichen Gelingen den Vorrang vor dem gesellschaftlichen Gelingen zu geben«, auf eine Problematik Frommscher Lebensschule hin, gibt es das gesellschaftliche Sein doch nur durch den Menschen als Subjekt. Ein Subjekt kann es also ohne gesellschaftliches Sein nicht geben. Die Dialektik dieser Einheit der Widersprüche geraten beim Autor in eine leichte Schieflage. Die »zwei Seelen in einer Brust«, von denen Funk spricht, wo die eine »will, was den Menschen gelingen lässt, und eine, was die Gesellschaft und ihn als gesellschaftliches Wesen gelingen lässt«, gibt es nicht als wählbare Alternative.

Wir müssen aktiv gegen die Entfremdungen agieren, die unser gesellschaftliches Leben auf existentielle Bedürfnisse reduzieren wollen, um uns zu unproduktiven, marketingorientierten Ich-Idioten zu degradieren, die den kapitalistischen Marktgesetzen treu und brav folgen wie die Schafe zur Schlachtbank. Das gelingt in dieser Gesellschaft nur, wenn gegen den Mainstream der quantitativen Bedürfnisse – Fromm sprach von »Habens-Orientierung« – geschwommen wird. Hoffen wir also auf viele produktive Ich-Starke, deren menschliches Bedürfnis es ist, die Entfremdungen der Gesellschaft, aber auch deren Narben und Wunden im eigenen Selbstinterpretieren und menschlich verändern zu wollen!

Rainer Funk: Erich Fromms kleine Lebensschule. Herder Spektrum, Freiburg. 192 S., br., 16,50 EUR.

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