»Heilmann vs. Wikipedia« gelöst – mit Spannungen

Der Vorsitzende der LINKEN, Lothar Bisky, war entsetzt und plädiert ausdrücklich für »freie Informationsformen«

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Sperrung des Internetzugangs von »wikipedia.de« – auf Grund einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts Lübeck – wurde auf Veranlassung des Antragstellers Lutz Heilmann (LINKE), gestern aufgehoben.

Ab 12.41 Uhr erschien gestern auf der Website von »wikipedia.de« nicht mehr ein Sperrvermerk (ND von gestern, Seite 1), sondern wieder das ganz normale Startseitenangebot dieser Internet-Enzyklopädie. Nachdem von ihm beanstandete Passagen aus seinem Personenartikel entfernt wurden, hatte der Bundestagsabgeordnete Lutz Heilmann am Montag beim Landgericht Lübeck »seinen Sperrantrag zurückgezogen, wodurch die ergangene Verfügung wirkungslos wurde«, erklärt die stellvertretende Gerichtssprecherin Gesine Brunkow gegenüber ND. Dennoch kann man sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass eine so weitreichende Gerichtsentscheidung »extrem unüblich« ist, wie es Marc Seibert vom Bundesausschuss der LINKEN auf ND-Anfrage formuliert. Bei Partei und Fraktion sind bis gestern Mittag etwa 2000 E-Mails angekommen, in denen die LINKE mit Zensur in Verbindung gebracht wird.

In einer Erklärung bedauerte auch Lutz Heilmann »außerordentlich«, dass »Wikipedia-Userinnen und -User in den letzten 24 Stunden keinen direkten Zugriff mehr auf Wikipedia-Inhalte hatten«. Wie gesagt: auf alle Inhalte, denn nicht nur sein Artikel war gesperrt. Der von Heilmann eingeschlagene juristische Weg, so die späte Einsicht des studierten Juristen, der vor seiner Wahl 2005 in den Bundestag ein paar Monate Rechtsreferendar am Landgericht Lübeck war, habe sich als »problematisch erwiesen«. Es ist sogar voll nach hinten losgegangen, dass der Links-Abgeordnete »mit Kanonen auf Spatzen geschossen hat«, wie es der Pressesprecher der Bundestagsfraktion, Hendrik Thalheim, formulierte, um weiteren Schaden abzuwehren.

Allein am Wochenende wurde der Wikipedia-Artikel über Heilmann eine halbe Million Mal abgerufen, vor der Sperrung waren es gerade 200 bis 300 Klicks pro Woche. Erstmalig taucht seit dem Wochenende die Causa Heilmann jetzt auch in anderssprachigen Wikipedia-Angeboten auf. Das nennt man im Internet den »Streisand-Effekt«. Die Schauspielerin Barbra Streisand hatte eine Klage über 50 Millionen Dollar angestrengt, um zu verhindern, dass bei »pictopia.com« ein Luftbild ihres Anwesens (inmitten von 12 000 anderen Häusern der Küste Kaliforniens) gezeigt wurde – mit dem Resultat, dass dieses Bild im Internet überdurchschnittliche Zugriffsraten erzielte.

Wenngleich auch in der Zeit der Sperre das deutschsprachige Angebot von Wikipedia weiter über die Adresse »wikipedia.org« zu erreichen war, ist der Unmut über Heilmanns Vorgehen ungemein größer als das Verständnis dafür. Schaute man am Montag im Newsbereich von Google nach und gab dort »Heilmann« und »Wikipedia« ein, so fand man in 0,15 Sekunden über 1000 Einträge von Zeitungen bis zu privaten Internetseiten. Das liest sich zum Beispiel so: »Ex-Stasi Mitarbeiter lässt Wikipedia sperren«; »Linken-Politiker legt wikipedia.de auf Eis«; »Linke-Politiker legt Wikipedia lahm«; »Wikipedia-Sperre: Politiker gibt klein bei«. Und so weiter in mehr als 400 Artikeln. Schaut man nach der Aufhebung der Sperre noch einmal bei Wikipedia vorbei, findet sich – sehr aktuell – in dem Artikel, der dem Landgericht Lübeck gewidmet ist, bereits der »Fall« Heilmann.

Sebastian Moleski, der Geschäftsführer von Wikipedia Deutschland, meint, dass Lutz Heilmann »schlecht beraten« gewesen sei, überhaupt vor Gericht gegen seinen Verein vorzugehen. »Wenn Personen mit Inhalten der Wikipedia über sich selbst nicht einverstanden sind, gibt es andere Wege, um zum Ziel zu kommen.« In der Tat, die Mehrzahl von Problemen kann einvernehmlich intern gelöst werden, ohne das ganze Angebot des Internet-Lexikons gerichtlich sperren zu lassen. Schon die frühere stellvertretende Vorsitzende der LINKEN, Katina Schubert, erregte viel Unmut, als sie Ende 2007 eine Strafanzeige wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole in Artikeln von Wikipedia ankündigte (es ging um Abbildungen im Wikipedia-Eintrag über die Hitler-Jugend). Das konnte indessen geklärt werden, ohne dass Gerichte bemüht werden mussten. Ein politischer Schaden für die LINKE war dennoch entstanden. Der jetzige dürfte weitaus größer sein.

Der Vorsitzende der LINKEN Lothar Bisky, selbst Medienwissenschaftler und medienpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, war »entsetzt«, als er am Wochenende in Wien von dieser unliebsamen Angelegenheit erfuhr. Wenn man seine Persönlichkeitsrechte wahren wolle, könne man sich »in einem offen zugänglichen Medium wie Wikipedia anders schützen als mit Gerichten«, so Bisky gegenüber ND. »Die Linke schätzt freie Informationsformen außerordentlich hoch.«

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