Auschwitz überlebt

Der 82-jährige Justin Sonder beantwortet Fragen junger Leute

  • Klaus Müller
  • Lesedauer: 10 Min.
Justin Sonder bei der Jugendfeuerwehr Grüna bei Chemnitz, deren Ehrenmitglied er ist.
Justin Sonder bei der Jugendfeuerwehr Grüna bei Chemnitz, deren Ehrenmitglied er ist.

Was willst Du in Deutschland? Komm mit uns. In Frankreich wird es Dir gut gehen.« Das rieten junge französische KZ-Häftlinge ihrem Kameraden Justin Sonder am 23. April 1945 in Bayern. Auf dem Todesmarsch vom Lager Flossenbürg waren sie durch amerikanische Truppen befreit worden. »Nein«, sagte der 19-Jährige, »Deutschland ist mein Land. Meine Heimatstadt ist Chemnitz. Dort werde ich gebraucht.« Die bitteren Erfahrungen des eben noch Todgeweihten, später der Anblick des Trümmerfeldes zu Hause bestärkten ihn in seinem Engagement gegen Faschismus und Krieg bis heute. Vor jungen Leuten in Chemnitz und anderen Orten Sachsens, von Plauen bis Hoyerswerda, berichtet er lebhaft, miterlebbar, über die Verbrechen des Nazi-Regimes. Sie sollen begreifen, wohin zugespitzter Nationalismus und Rassismus führen. Der mittelgroße, schlanke Weißhaarige, der über vier Jahrzehnte zur Volkspolizei gehörte, beantwortet prinzipiell jede ihrer Fragen. Was passierte damals?

Ein schwarzer Sonnabend war der 27. Februar 1943 für mehrere tausend Juden in Deutschland, vor allem in Berlin. Sie wurden von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert. So auch der junge Sonder in Chemnitz. Kurz nach sechs Uhr morgens (Juden durften gar nicht eher auf die Straße), auf dem Weg zur Lampenfabrik E. F. Barthel, wo er Zwangsarbeit für die Rüstung leisten musste, nahmen zwei Männer den Jungen fest. Im Chemnitzer Polizeigefängnis brachte er zwei Tage zu. Dort hatte er auch sein ganzes »Vermögen« von 75 Reichsmark abzuliefern. Dann ging es mit rund 40 Leidensgefährten per Bahn nach Dresden. Zwischenaufenthalt für etwa zehn Stunden in dem vom dortigen Judenreferenten Schmidt eigens eingerichteten KZ am Hellerberg. Abends wurden sie auf dem Neustädter Bahnhof wieder verladen.

»In Viehwagen waren jeweils bis zu 50 Leute eingepfercht, insgesamt an die 2500«, erinnert sich Justin. »Es gab weder Essen noch Trinken, nur einen Eimer für die Notdurft. Keiner kannte das Ziel. Ich dachte, wir kommen zu einem Arbeitseinsatz.« Jetzt widerfuhr ihm, was seine Eltern, Zita und Leo Sonder, schon ein reichliches halbes Jahr zuvor erleben mussten. Allerdings kamen die zunächst in das KZ Theresienstadt und dann, im Januar 1943, in das Vernichtungslager. Die Mutter sah nach der Ankunft dort den nächsten Tag nicht mehr. Vater Leo verstarb 1949 in Chemnitz.

Die von Dresden aus Deportierten erreichten nachts die Rampe in Auschwitz-Birkenau. Es war der 2. März 1943. Wenn er davon be-richtet, spürt Justin wieder die eisige Luft. Er hat das grelle Schein-werferlicht und geschäftig hin und her laufende SS-Leute vor seinem inneren Auge, hört die Befehle: »Alle raus! Gepäck in den Waggons lassen! Antreten! Schneller!« Gleich neben dem Zug erfolgte die allererste Selektion – Aussonderung fürs Gas oder zur Vernichtung durch Arbeit. Das wusste aber keiner der Ankömmlinge. »Wir mussten alle am kommandierenden SS-Offizier vorbeiziehen. Alter und Beruf waren zu nennen. Der Name war schon nicht mehr gefragt. Ich wollte einen möglichst guten Eindruck machen. Strammen Schrittes ging ich auf den Schwarzen zu und meldete: 17 Jahre, Monteur. Er wies mich zu der Gruppe, die links von ihm stand. Plötzlich hielt er mich mit der Frage zurück: Hast Du noch Verwandte in Deutschland? Ich hatte keine mehr. Alle waren schon in Lagern oder tot. Einer blitzschnellen Eingebung folgend sagte ich aber: Ja, eine Tante. Dabei dachte ich an Johanna Hilsenrath, eine gütige Frau im Chemnitzer ›Judenhaus‹, Zschopauer Straße 74. Als ich dort mit meinen Eltern wohnen musste, habe ich, wie alle anderen Kinder und Jugendlichen im Haus, zu ihr einfach Tante gesagt. Sie war aber keine Jüdin. Der Kommandierende befahl mir zu warten. Dann holte er eine Postkarte aus seiner Manteltasche und gab mir seinen Füllfederhalter. Ich musste auf seinem Rücken, nach seinem Diktat die Karte ausfüllen: ›Bin gut im Arbeitslager Monowitz angekommen. Mir geht es gut. Viele Grüße‹, Unterschrift und Adresse. – Die Postkarte ist angekommen, wie ich nach der Befreiung erfahren habe. Sie war ein Tröpfchen im Fluss Goebbelsscher Lügen-Propaganda.«

Nach dieser »Amtshandlung« wurde der Schreiber schließlich links eingegliedert, wo insgesamt 680 Männer und Frauen zusam-menkamen. Nach rechts waren in jener Nacht gut 1800 Menschen aussortiert worden – Ältere, Kranke, Frauen und die wenigen Kinder. Sie haben die nächsten 120 bis 180 Minuten nicht überlebt. Die für Zwangsarbeit Vorgesehenen fuhr man nach Monowitz. Das war Auschwitz III, das spezielle KZ des IG Farben-Konzerns. Auf dem Areal von etwa 15 Quadratkilometern war BUNA IV im Entstehen für die Produktion von synthetischem Kautschuk.

Die »Neuen« mussten sich ausziehen, duschen, wurden kahlge-schoren, bekamen Häftlings-Drillich, einen Essnapf mit Löffel und ihre Gefangenen-Nummer auf den linken Unterarm tätowiert. Das Tätowieren der Arbeitssklaven hatte sich Lagerkommandant Rudolf Höß als Besonderheit ausgedacht. Es sollte Fluchtgedanken von vornherein ausschließen helfen. Der junge Sonder bekam die Nummer 105 027. Sie ist immer noch zu erkennen. Bis zur Auflösung des gesamten Lagerkomplexes Auschwitz sind dort 405 222 Nummern in Unterarme gestochen worden. Bei denen, die kurz nach der Ankunft an der »Rampe« ins Gas geschickt wurden, sparte man sich das Tätowieren. Eingeprägt hat sich dem Chemnitzer auch die »Empfangsrede« des Blockältesten. Das war ein Krimineller – wie in den meisten Lagern gab es auch hier das ganze Gefangenenspektrum. Laut Justin sagte er: »Ihr seid nun im Konzentrationslager Auschwitz gelandet. Ab heute geht es nur noch um euer Leben. Ihr dürft nicht mehr an eure Eltern, Geschwister, Großeltern denken. Die alle sind für euch gestorben. Es geht nur noch ums nackte Überleben. Ihr habt die Disziplin zu wahren hier im Block, beim Bettenbau und beim Essen, nach deutscher Gründlichkeit. Ihr müsst arbeiten, nicht an früher denken. Und das ist euer Leben.«

Der Tag begann für die Häftlinge vor dem Morgengrauen. Waschen mit kaltem Wasser und Tonseife. Als »Frühstück« wurde eine Kelle undefinierbarer schwarzer Brühe ausgegeben. Dann rückten alle in sogenannten Kommandos aus, um weitere Werkhallen aufzubauen oder solche im Rohbau zu komplettieren. Zementsäcke waren zu schleppen. Wenn es den Bewachern einfiel, im Laufschritt. Und das fiel ihnen oft ein. Waggons mit Baumaterial wurden nicht von Lokomotiven sondern von Häftlingen rangiert. Die SS-Leute begleiteten all das mit Fußtritten und Gewehrkolbenschlägen auf Gesäß und Beine, weil es ihnen zu langsam ging, weil einer den schmerzenden Rücken streckte – Vernichtung durch Arbeit. »Jeden Mittag, wenn es eine Wassersuppe mit zwei, drei Kartoffelstückchen gab, fuhr schon ein Lkw mit Verletzten und Halbtoten zu den Häftlingsblocks zurück. Wir haben sie nie wieder gesehen«, so Justin Sonder. Nur die Jungen und Kräftigsten hielten bei diesen Torturen und der miserablen Verpflegung (abends eine Scheibe Brot und Margarine oder ein Stückchen Leberwurst) durch. Wer bei Fluchtversuchen oder anderen »Vergehen« erwischt wurde, den hängte die SS vor aller Augen. Ein Sechzehnjähriger aus Saloniki kam an den Lager-Galgen, weil er sich während eines Fliegeralarms etwas Brot besorgt hatte. Tief betroffen hörte die schweigende Menge seinen letzten, halb erstickten Ruf: »Mama!«

Manchem half Solidarität. Die erlebte Justin Sonder im Lager und von außen. Kurz nach der Ankunft gab ihm ein Mithäftling, der schon länger in Monowitz war, gegen die Winterkälte seinen Pullover, als er erfahren hatte, dass der Junge, wie er selbst, aus Chemnitz kam. Und viel später wurde Justin eines Tages in die Lagerkommandantur befohlen. Als er sich dort, innerlich aufgeregt, meldete, händigte man ihm ein Päckchen aus. Sein Chemnitzer Kinderarzt, Dr. Otto Jäger, der ihn noch vor zwei Jahren trotz des Judensterns heimlich abends behandelt hatte, schickte ihm Zwieback, etwas Schokolade, Sandkuchen und Knorr-Suppen. Das war eine Sensation. Die Adresse hatte der Arzt von der Empfängerin der Postkarte bekommen. Aber zu so einer Tat gehörte schon viel Mut. Allein die Tatsache, dass es Menschen gab, die etwas gegen den gewöhnlichen Rassismus der Nazis unternahmen, habe ihm sehr viel Kraft gegeben, hebt Justin hervor.

Solidarität war es auch, die den jungen Häftling im September 1944 eine Operation seines linken, stark geschwollenen Knies und die damit verbundenen Folgen überstehen ließ. Der SS-Arzt Dr. Fischer, bei dem er sich melden musste, malte ihm hämisch lächelnd mit dem Jodpinsel ein Hakenkreuz auf das Knie. Dann schickte er ihn ins Krankenrevier. Alle, die hier arbeiteten, waren Häftlinge. Dr. Grossmann, ehemaliger Chefchirurg einer Berliner Klinik, operierte Justin auf blankem Tisch ohne Narkose. Vier Sanitäter hielten ihn fest, nachdem ihm einer ein Handtuch in den Mund gegeben hatte. Sein heutiger Kommentar dazu: »Der Mensch kann viel aushalten.« Der am nächsten Morgen folgenden Selektion fiel er nicht zum Opfer, nur weil sich der Operateur entschieden für ihn einsetzte. Seinen Rettern hatte der Patient zu verstehen gegeben, dass er im Falle der möglichen Vernichtung des Lagers und der Häftlinge durch die SS bis zum letzten Atemzuge kämpfen wolle. Sie nahmen ihn wegen dieser Haltung in den Auschwitzer Widerstand auf.

Seine Bewährungsprobe kam Mitte Dezember 1944. In einer Werkhalle sollten Maschinen und Anlagen installiert werden. Aber Boden und Rohrleitungen waren vollkommen vereist, der Kampf dagegen mit Hacken und Meißeln nicht zu gewinnen. »In der Situation kam ein mir unbekannter Häftling auf mich zu und sprach mich mit Namen an. Das war ungewöhnlich«, so Justin. In den nächsten Minuten sollten zwei SS-Leute mit einer Lkw-Ladung Chemikalien gegen das Eis kommen. »Das Auftaumittel darf das Eis nicht berühren!«, lautete die Anweisung der Widerstandsleitung. Als der Wagen kam, wurden die Uniformierten mit einem gespielten Tu-mult abgelenkt. Gleichzeitig schlitzten Justin und ein Gleichgesinnter die Papiersäcke auf und streuten das Salz vor der Halle in den Schnee. Noch heute ist er stolz auf die gelungene Aktion. Erstaunlicherweise übte die Lagerkommandantur keine Vergeltung. Vielleicht dachte sie schon an die Auflösung des KZ, da die Front immer näherrückte.

Aufgelöst wurde Auschwitz-Monowitz am 18. Januar 1945. In der Dunkelheit sahen die Häftlinge auf dem Marsch nach Gleiwitz bereits das Aufleuchten sowjetischen Geschützfeuers. Wer zurückblieb, wurde erschossen. In Gleiwitz eine Nacht Rast. Dann mussten 7000 Mann in offene Kohlewagen steigen. Die Fahrt ging bei klirrendem Frost durch Schlesien und die Tschechoslowakei in Richtung Mauthausen (Österreich). Unterwegs sind viele erfroren. Die Leichen wurden aus dem Zug geworfen. Hielt der Transport auf der Strecke, an Brücken, warfen Tschechen, die merkten, wer da befördert wurde, Brot in die Waggons, bis sie von den Wachmannschaften vertrieben wurden.

Das KZ Mauthausen war im Januar 1945 überfüllt. So wurde der Zug umgeleitet, Ziel: Lager Sachsenhausen. Als er auf der Strecke zwischen Usti nad Labem und Dresden an einer kleinen Station hielt, befahl der Transportchef, Hauptsturmführer Bernhard Rackers, mehr als einem Dutzend Häftlingen, sich auf dem Bahnsteig mit dem Gesicht nach unten hinzulegen. Er tötete sie mit Genick-schuss, einfach so. Am 28. Januar lieferte er in Sachsenhausen rund 3200 noch Lebende ab.

Eine Woche später ging es für Justin Sonder weiter nach Flos-senbürg in der Oberpfalz. Ein gravierendes Erlebnis hatte er dort, als er eines Tages die Wachtürme des Lagers reinigen musste. Von oben erblickte er große Leichenberge neben dem Krematorium. »Die Öfen schafften das Verbrennen nicht mehr«, sagt er. Am 16. April löste die SS das Lager auf. Zunächst ging es per Zug nach Süden. US-Jagdbomberpiloten, die das Ganze für einen Militärtransport hielten, griffen an. Dabei kamen 133 Häftlinge um. Der Fluchtversuch von Justin und zwei Polen missglückte. Sie wurden gestellt und sollten erschossen werden. Da kam zum Glück der nächste Jagdbomberangriff. Nun konnten sie zwischen den anderen Häftlingen untertauchen.

Zu Fuß ging es jetzt weiter bis zum Morgen des 23. April. In der Nähe des kleinen Ortes Wetterfeld bei Roding, westlich von Cham, machte die Gruppe, zu der er gehörte, in einer Scheune Rast. Er kann sich noch gut erinnern: »Plötzlich hörten wir Rufe von draußen: Freiheit, wir sind frei. Panzerspitzen der Armee Pattons hatten uns befreit. Später habe ich erfahren, dass in dem nahegelegenen Forst noch 1500 Häftlinge unseres Transports von der SS erschossen worden sind. Das war eigentlich unser Schicksal. Wir sollten auch erschossen werden.«

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