»Das waren unsere Väter«

Der junge japanische Wissenschaftler Hiroshi Oda bemüht sich um einen kritischen Umgang seines Landes mit den Verbrechen der eigenen Armee im zweiten Weltkrieg – und meint, dass Japan da von Deutschland lernen kann

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 6 Min.
Hiroshi Oda im Stelenfeld des Berliner Holocaust-Mahnmals
Hiroshi Oda im Stelenfeld des Berliner Holocaust-Mahnmals

Professor Hiroshi Oda wirkt jung. Viel jünger, als man sich einen Professor vorstellt. Eher glaubt man einen Studenten zu treffen, der durch Berlin radelt. Doch der 42-Jährige lehrt an der Universität von Hokkaido Kulturanthropologie. Er geht dort einem sehr ernsten Thema nach: der Rezeption des zweiten Weltkriegs in Japan heute, vor allem der japanischen Kriegsverbrechen. Wie gehen Japaner mit ihrer Geschichte um?

Kriegsverbrechen im zweiten Weltkrieg – bei diesem Thema denkt hier zunächst kaum jemand an Japan. Nagasaki und Hiroshima sind geläufige Stichworte, Japan als bisher einziges Opfer von Atombomben. Drei Millionen Opfer hatte das Land in diesem Krieg zu beklagen. Dass es gleichzeitig für den Tod von mehr als 20 Millionen Menschen im asiatischen Raum verantwortlich war, dass in Hiroshima auch 40 000 Koreaner ums Leben kamen, die dorthin als Zwangsarbeiter verschleppt waren, dass Vergewaltigungen und Zwangsprostitution unter japanischer Besatzung Alltag waren, das ist weniger bekannt.

Das zeigte sich auch bei einer Begegnung zwischen Mitgliedern von japanischen Organisationen, die sich die Aufarbeitung der Vergangenheit zum Ziel gesetzt haben, und Deutschen, die sich hier der gleichen Aufgabe widmen. Das Treffen hat die evangelische Organisation Aktion Sühnezeichen/ Friedensdienste ermöglicht.

Das meiste, was die japanischen Gäste berichteten, war den deutschen Zuhörern neu, obwohl sie sich schon lange mit diesem Thema befassen. Und obwohl erfolgreich der Film »John Rabe« in den Kinos läuft, der die japanischen Verbrechen bei der Besetzung von Nanking beschreibt.

Doch auch die meisten Japaner wissen nur wenig über diesen düsteren Teil ihrer Geschichte. Hiroshi Oda ist mit seinen Kollegen deshalb nach Deutschland gekommen, um NS-Gedenkstätten zu besuchen und von den Deutschen zu lernen. Denn in Japan gibt es nur wenige Organisationen, die sich mit der Vergangenheit kritisch auseinandersetzen. Auf der japanischen Insel Hokkaido, wo Oda lehrt, leben viele Koreaner. Den meisten Japanern ist jedoch nicht bewusst, dass diese Menschen oder ihre Vorfahren als Zwangsarbeiter dorthin verschleppt worden sind. Auch Hiroshi Oda erfuhr davon erst, als er Korea besuchte und dort einen ehemaligen Zwangsarbeiter kennenlernte, der ihm seine Geschichte erzählte. Für dieses Unrecht gibt es bis heute weder eine offizielle Entschuldigung noch eine Sühne.

Das Schicksal der Trostfrauen

Warum weigert sich die japanische Gesellschaft bis heute, sich mit ihrer Vergangenheit als Täter auseinanderzusetzen? Hiroshi Oda erklärt das mit der autoritären Staatsstruktur seines Landes. Bis 1945 war der Tenno der kaiserliche Führer des japanischen Volkes, der seinen Herrschaftsanspruch direkt von Gott ableitete. Ende des 19. Jahrhunderts ging Japan auf imperialistischen Aggressionskurs gegen die koreanischen und chinesischen Nachbarn. 1931 begann der Asien-Pazifik-Krieg, der in den zweiten Weltkrieg mündete. In dieser Zeit geschah u. a. das Massaker von Nanking mit wahrscheinlich mehr als 200 000 Toten. 700 000 Koreaner wurden zur Zwangsarbeit nach Japan gebracht, hunderttausende Frauen aus den okkupierten Gebieten zur Prostitution für japanische Soldaten gezwungen.

Nach dem Krieg versuchten die Amerikaner, in einem Kriegsverbrechertribunal ähnlich wie in Nürnberg die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Doch 1950 begann der Korea-Krieg, die USA brauchten Japan als Verbündeten. Von einer Verfolgung der Kriegsverbrechen konnte keine Rede mehr sein. Einige der Angeklagten waren sogar an späteren Regierungen beteiligt. Niemand hatte ein Interesse daran, sich mit den Tätern auseinanderzusetzen. Allerdings entstand aus der Beschäftigung mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und deren Folgen eine pazifistische Haltung, die es irgendwann nicht mehr erlaubte, die japanischen Verbrechen zu ignorieren.

Das erste Kriegsverbrechen, das Anfang der 90er Jahre in der japanischen Öffentlichkeit diskutiert wurde, war das Thema der sogenannten Trostfrauen, der Zwangsprostituierten aus Korea, Taiwan, China und Südostasien. Sie wurden in Militärlagern unter entsetzlichen Bedingungen als Sexsklavinnen gehalten. Anfang 1990 erhob eine Koreanerin Kim Hak-Soon Anklage gegen die japanische Regierung, was immerhin zu einer Entschuldigung des damaligen japanischen Regierungschefs führte. Aber bis heute hat sich Japans Regierung geweigert, Wiedergutmachung zu leisten.

Eine geschichtsrevisionistische Haltung ist in Japan weit verbreitet. Die Frauen seien nicht zum Sex gezwungen worden, sondern hätten freiwillig als Prostituierte für Geld gearbeitet, heißt es u.a. im Internet. Gegenüber solchen Positionen verhält sich die japanische Regierung passiv und unterstützt sie damit indirekt.

Seit dem Krieg lebt eine große koreanische Minderheit in Japan. Sie ist gegenüber den Japanern bis heute benachteiligt. Auf der Insel Hokkaido gibt es erste Versuche, die Verbrechen an den Koreanern aufzuklären. Freiwillige haben in den letzten Jahren Massengräber freigelegt. Alte und junge Menschen haben mitgemacht, Japaner, Koreaner, Chinesen. Auch ein ehemaliger Zwangsarbeiter war darunter, wie der buddhistische Mönch Yoshihiko Tonohira jetzt in Berlin berichtete: »Er war vom Enthusiasmus der japanischen Teilnehmer überrascht. So ist sein Groll gegen die Japaner verschwunden.«

Ein anderer Kollege von Hiroshi Oda, Kuniko Muromoto, befasst sich mit dem Massaker von Nanking. Auch dieses Verbrechen wird von Revisionisten geleugnet. Muromoto ist vor allem die sozialpsychologische Seite wichtig. In japanischen Familien gebe es viel Gewalt, berichtete er, die hauptsächlich von den Männern ausgeht. Das könne sich nicht ändern, solange sich die Gesellschaft nicht mit ihren vergangenen Verbrechen auseinandersetze. Mit seinem Projekt »Die Wunden der Vergangenheit heilen« will er die posttraumatischen Folgen der Kriegsverbrechen in der japanischen Gesellschaft offenlegen.

Vor zwei Jahren besuchte er mit einer Gruppe von Japanern Nanking. Sie trafen auch Überlebende von damals, die ihre Geschichte von den Morden und Massenvergewaltigungen erzählten. In der Gedenkstätte von Nanking sahen die Besucher Bilder lächelnder japanischer Soldaten neben ihren chinesischen Opfern. »Das waren unsere Väter und Großväter. Sie kamen nach Japan zurück und bauten unser Land wieder auf, in dem wir aufgewachsen sind.« Was die ältere Generation im Krieg erlebt und zu verantworten hatte, das hat auch die späteren Generationen in Japan beeinflusst. Gerade weil über die Verbrechen nicht gesprochen wurde.

»John Rabe« fand keinen Verleih

Hiroshi Oda und Kuniko Muramoto versuchen das zu ändern. Sie sprechen mit ihren Studenten über die Geschehnisse im Krieg. Sie bieten Seminare an. Ihre Studenten haben keinerlei Vorkenntnisse, höchstens falsche. Und Kuniko Muramoto zitiert einen seiner Studenten: Der habe verstanden, »wie sehr das alles die Familien, die ganze Gesellschaft verletzt hat«.

So viele Gedenkstätten und Mahnmäler wie möglich hate die Gruppe um Hiroshi Oda in Deutschland besucht: das Haus der Wannseekonferenz etwa, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, das Holocaust-Mahnmal. Sie wollten sehen, wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. Denn eine Gedenkstätte für Nanking gibt es in Japan noch immer nicht; nur am Ort des Geschehens, in China. Nicht einmal der Film »John Rabe« hat einen japanischen Verleih gefunden. Hiroshi Oda will nun versuchen, ihn auf andere Weise nach Japan zu bringen und dort zu zeigen.

Besonders beeindruckt hat ihn der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Es waren Deutsche, Vertreter von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, die vor 40 Jahren die Idee einer solchen Begegnungsstätte für Jugendliche aus aller Welt hatten. Ein Traum, der absurd erschien in einer Welt, die durch den Eisernen Vorhang geteilt war. Dennoch wurde er verwirklicht, auch wenn es 20 Jahre dauerte. Von einer solchen Begegnungsstätte, die Japaner in China errichten, träumt nun auch Hiroshi Oda.

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