Die Bundeswehr ist das eigentliche Problem

  • Peter Strutynski
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Bundeswehr ist das eigentliche Problem

Vor wenigen Tagen berichteten die »Fürther Nachrichten« in ihrem Lokalteil über einen besonders grotesken Fall von »Wehrungerechtigkeit«. Danach soll ein Abiturient seinen Grundwehrdienst antreten, obwohl er einen Ausbildungsplatz angeboten bekommen hat. Einen Antrag des jungen Mannes auf Zurückstellung lehnte das zuständige Kreiswehrersatzamt ab – obwohl solche Anträge üblicherweise positiv beschieden werden. Der Abiturient klagte und bekam vom Amtsgericht Ansbach Recht. Dagegen legte die Bundeswehr Berufung ein, sodass der Fall demnächst vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt wird.

Dieser Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf einen Irrwitz – und auf ein Prinzip. Der Irrwitz besteht darin, dass die Bundeswehr ohnehin nicht einmal mehr die Hälfte der als »wehrtüchtig« gemusterten jungen Männer eines Jahrgangs zu den Waffen ruft. Und das, obwohl die Kriterien für den Wehrdienst stark angezogen wurden. Wurden noch vor wenigen Jahren lediglich 17 Prozent eines Jahrgangs »ausgemustert«, so sind es heute rund 50 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden von den 440 000 18-Jährigen nur 243 000 als tauglich gemustert; 70 000 davon wurden zum Waffendienst eingezogen, 90 000 verweigerten und wurden zum Zivildienst verpflichtet, weitere gut 80 000 kamen ganz ohne davon. Diese Schieflage ist mittlerweile so dramatisch, dass das Kölner Verwaltungsgericht die gegenwärtige Einberufungspraxis für grundgesetzwidrig hält.

Angesichts der großen Zahl tauglich gemusterter Männer, die nicht eingezogen werden, weil kein Bedarf besteht, mutet der oben erwähnte Fall tatsächlich wie ein Irrwitz an. Warum klammert sich die Bundeswehr ausgerechnet an den einen Wehrpflichtigen, wo es doch so viele andere gibt, die nicht gezogen werden, obwohl sie vielleicht gern wollten? Das hat mit etwas Prinzipiellem zu tun: Die Bundeswehr möchte das Recht behalten, über die Zahl und die »Qualität« ihrer künftigen Soldaten je nach Bedarfslage selbst entscheiden zu können. Dass die »Wehrgerechtigkeit« dabei auf der Strecke bleibt – wie mittlerweile auch Politiker der radikalen Mitte erkannt haben – ist eine unangenehme Begleiterscheinung. Sie wird einen Westerwelle nach der Bundestagswahl aber nicht davon abhalten, mit Merkel ins Bett, nein – Gott behüte! – ins Kabinett zu steigen, um dem neoliberalen Projekt wieder neuen Schwung zu verleihen.

Und wenn schon über »Wehrgerechtigkeit« geredet wird: Die schreiendste Ungerechtigkeit liegt doch wohl darin, dass ein sehr großer Teil derjenigen, die »zum Bund« bereit sind, nicht gehen und auch keinen anderen Dienst versehen müssen, während die Kriegsdienstverweigerer ausnahmslos Zivildienst leisten müssen. Schon allein aus diesem Grund wäre die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und anderer Dienstpflichten ein Akt der Gerechtigkeit.

Irrwitz also aus Prinzip: Mit der Verkleinerung der Sollstärke von 520 000 auf 340 000 und ihrer gleichzeitigen »Transformation« von einer Verteidigungs- in eine Interventionsarmee kann sich die Bundeswehr den Luxus leisten, auf einen großen Teil wehrtauglicher Männer zu verzichten und nur noch die für das moderne Kriegshandwerk am besten geeigneten Kräfte einzuziehen. Die Mehrheit der EU-Staaten hat aus diesem allgemeinen Trend die Konsequenz gezogen und in den letzten Jahren ihre Streitkräfte zu Freiwilligen- bzw. Berufsarmeen umgebaut.

Die deutsche Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht geht nach meinem Geschmack am eigentlichen Problem vorbei. Gewiss: Man kann sich mit vielerlei guten und schlechten Argumenten darüber streiten, ob sich eine Wehrpflichtarmee der Demokratie eher verpflichtet weiß oder wegen ihrer breiteren »Verankerung« in der Gesellschaft kriegsresistenter ist als eine Freiwilligenarmee. Dem nationalsozialistischen Aufrüstungsprogramm und den Kriegsvorbereitungen Hitlers ging die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht voran! Für die These, dass sich eine Berufsarmee eher zu einem »Staat im Staat« und zu einer expeditionslüsternen Angriffsarmee entwickeln könnte als eine Wehrpflichttruppe, gibt es ebenso viele Beispiele wie Gegenbeispiele. CDU/CSU- und SPD-Politiker räumen längst ein, dass sie nur noch deshalb an der Wehrpflicht festhalten, weil damit die Rekrutierung gut ausgebildeter Soldaten besser von der Hand geht. Wenn FDP-Politiker und Grüne heute ihr Herzblut für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Einführung einer Freiwilligen- und Berufsarmee vergießen, gleichzeitig aber alle Auslandseinsätze der Bundeswehr rechtfertigen, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie das nicht tun, um die Latte des Kriegseinsatzes höher zu hängen, sondern sich bei jenen Wählerschichten beliebt zu machen, denen der Militärdienst aus welchen Gründen auch immer völlig egal ist.

Aus friedenspolitischer Sicht beginnt das wirklich relevante Problem erst jenseits der Frage Wehrpflicht oder Berufsarmee. Es geht um die Frage, ob und in welchem Umfang deutsche Streitkräfte erforderlich oder wünschenswert sind. Zur Zeit der Ost-West-Blockkonfrontation war diese Frage – nachdem das Konzept eines entmilitarisierten deutschen Staates nicht zum Zuge gekommen war – leicht zu beantworten: Die Bundeswehr sollte das Territorium der Bundesrepublik Deutschland gegen einen militärischen Angriff von außen verteidigen. Nachdem diese Gefahr – so sie denn überhaupt je bestand – mit der epochalen Wende 1990 entfallen war, hätte sich auch die Verteidigungsarmee Bundeswehr von selbst erledigen können. Dass sie es nicht tat, lag am Erfindungsreichtum des Militärs, das flugs alle möglichen »neuen Risiken« am Horizont aufziehen sah, und es lag an der politischen Klasse, die nun ihre Chance auf eine militärisch gestützte neue Außenpolitik in der Welt gekommen sah. Der vermeintliche »Kampf gegen den Terror« ist genauso wie die Chiffre von den »humanitären Interventionen« zu einem Deckmantel für imperialistische Machenschaften im Wettrennen um Öl und andere Energieressourcen und um die weitere ungehinderte Ausbeutung der Dritten Welt geworden. Ob in Afghanistan Berufssoldaten oder Wehrpflichtige töten und sterben, macht nicht den Unterschied. Dass sie nicht mehr töten dürfen und nicht mehr sterben müssen, darauf käme es an.

Dr. Peter Strutynski, Jahrgang 1945, ist Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter. Er ist seit etwa 30 Jahren in der Friedensbewegung aktiv und leitet die Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Universität Kassel, die jährlich den Friedenspolitischen Ratschlag veranstaltet (www.uni-kassel.de/fb5/frieden).

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