Ana schweigt

Nicol Ljubic zwischen den Fronten

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Die erste Seite könnte einen dazu bringen, das Buch gleich wieder zuzuschlagen. So eine vereinfachte – einseitige – Darstellung des Jugoslawienkrieges soll tatsächlich vor dem Tribunal in Den Haag laut geworden sein? Oder ist es als Erklärung des Autors zu verstehen? Aber der ist studierter Politikwissenschaftler. Er müsste doch wissen: Es war in westlichem Interesse, dass Jugoslawien zerfiel. Dass die wohlhabenderen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien sich von der Unabhängigkeit Vorteile versprachen, ist verständlich und kennzeichnet auch andere Autonomiebestrebungen in der Welt, die von Zentralstaaten abgewiegelt und von ausländischen Mächten je nach eigener Interessenlage beurteilt werden.

Aber dies ist ein Roman, ein feinsinniger, nachdenklicher Text, der – das wird der Leser bald merken – durchaus die Lektüre lohnt. Es geht um den Zusammenstoß zweier Lebensgeschichten. »Er«, Robert, ist als Sohn kroatischer Einwanderer in Deutschland aufgewachsen, kann nicht mal die Sprache seiner Eltern. Sie wollten, dass er sich hier verwurzelt; das ist wohl gelungen. »Sie«, Ana, stammt aus Višegrad und lebt noch nicht lange in Berlin. Eine Serbin – Roberts Vater meint, man solle das den Verwandten lieber nicht sagen, wünscht aber den Jungverliebten Glück. Und man wünscht es ihnen auch, denn so wie Nicol Ljubic diese Liebe beschreibt, geht es unter die Haut. Robert verdient Ana und sie verdient ihn. Er lebt ganz in der Gegenwart, doch sie hat eine Geschichte, die sie nicht los wird und nicht erzählt. Hätte sie ihm vertraut, wer weiß ... So zwingt sie ihn – und den Leser – auf den schweren Weg.

Robert war 14 , als der Jugoslawienkrieg ausbrach. In der deutschen Kleinstadt, wo er lebte, interessierte er sich nicht sonderlich dafür. »Die sind da alle verrückt geworden«, sagte sein Vater nur. Ohne dass sie es will, bringt Ana ihn dazu, über seine Herkunft nachzudenken. Er betrachtet das Porträt ihres Vaters, eines Literaturprofessors, Spezialist für Shakespeares Dramen. Von Zlatko Simic, diesem klugen, gütigen Mann wünscht er sich, akzeptiert, ja geliebt zu werden. Doch dann erfährt er, dass Anas Vater als Kriegsverbrecher vor dem Gerichtshof in Den Haag steht. Er will nun alles wissen und reist dorthin.

Ein Haus wurde angezündet, 42 Menschen verbrannten darin. Eine Zeugin meint in Simic denjenigen zu erkennen, der ihrer Familie und anderen Flüchtlingen den Weg in dieses Haus gewiesen hat. Die Verteidigung zieht das in Zweifel. Der Angeklagte sei zu dem Zeitpunkt mit einem Beinbruch im Krankenhaus gewesen. Robert wird unsicher, was Aisha, eine andere Besucherin des Prozesses überhaupt nicht nachvollziehen kann. Empörend findet sie es: Gäbe es ein Krankenhausbuch, das Simic ein Alibi verschafft, würde er am Ende gar noch freigesprochen – von Richtern, die den Krieg nur aus dem Fernsehen kennen. »Wo waren sie, als Hunderttausende aus ihren Häusern vertrieben wurden, als Menschen ermordet wurden, Kinder und Schwangere, als das Leben all derjenigen zerstört wurde, die körperlich überlebt, aber ihre Heimat verloren haben, ihre Familien, Freunde, ihren Glauben, ein Leben in Fröhlichkeit?« – Das ist ein ganz eindrucksvoller Moment dieses Romans, der sich an diesem Punkt weitet auf Opfer und Täter auch anderswo.

Aisha, die Schreckliches erlebt hat, ist Robert überlegen. Sie wirft ihm nichts vor, aber er fühlt sich so. Er könnte es wettmachen, indem er ihr entschieden zustimmt. Hier merkt man auch, wie der Autor schwankt zwischen seiner Nachdenklichkeit und einer imaginären Pflicht. Auch kann es ja sein, dass Simic sich nur geschickt einer Bestrafung zu entziehen sucht. Shakespeare kommt ins Spiel, die Liebe des Vaters zur Tochter. Gab es etwas zu rächen für ihn, was mit Ana zusammenhing?

Ana schweigt. Beim Lesen bedauerte ich, dass der Autor ihr nur Andeutungen zugestand. Immerhin erkennt man, dass sie anderer Meinung ist. Hilflosigkeit, Trotz. Einmal bricht es aus ihr heraus: »Wenn das Gericht so unvereingenommen ist, wie alle behaupten, dann soll es Clinton und Schröder anklagen und all die anderen westlichen Politiker, die verantwortlich sind für die Bombardierung eines souveränen Staats. Das war Serbien nämlich ... – Du hast nie erlebt, wenn Bomben auf deine Stadt fallen.« Wieder wird Robert zurückgewiesen. Aber hätte Ana nicht wenigstens das gleiche Recht zur Argumentation haben müssen wie Aisha?

Sicher, in einem Roman zählt nicht die Redezeit. Knappe Bemerkungen können genauso schwer wiegen wie lange Tiraden. Und vielleicht hat Nicol Ljubic ja der Stille vertraut – der »Meeresstille«, als Robert und Ana sich ganz nahe fühlten. Aber ist Liebe die Lösung? Einerseits, darf ich dem Autor denn übelnehmen, dass er viel stärker hin- und hergerissen ist als ich, die ich die Dinge mit Abstand sehe? Andererseits, Robert ist Historiker, er arbeitet an seiner Dissertation, müsste man von dieser Gestalt nicht tiefgründigere Reflexionen erwarten? Warum aber erwarten, wenn ich selber dazu aufgefordert werden soll? Freilich: Selbst wenn ich der ersten Seite des Romans allgemein zu widersprechen vermag, ich verstehe so vieles nicht im Konkreten. Ich hätte noch viele Fragen gehabt...

Auf die Festnahme Karadzics regierte Ana nicht, mit »Gott sei Dank«, wie von Robert erwartet. »Ihr denkt«, sagte sie, »dass jetzt alles vorbei ist. Aber es ist nicht vorbei. Und auch, wenn sie den Letzten auf der Liste haben, wird es immer noch nicht vorbei sein.«

»Auf dem Heimweg fragte er sie, was sie damit gemeint habe, aber sie sagte, es sei genug für heute.«

Nicol Ljubic: Meeresstille. Roman. Hoffmann und Campe. 188 S., geb., 17 €.

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