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Gewissen und Gras

Zum Tode des Dramatikers Michail Schatrow

  • Susanne Rödel
  • Lesedauer: 2 Min.

Am vergangenen Sonntag ist mein Freund, der Dramatiker Michail Schatrow (Foto: ND-Archiv), in Moskau gestorben.

Wieder ist einer von den »schestidesjatniki«, wie die Russen sagen, gegangen, einer von denen, die nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1956 an ein Tauwetter, an einen Sozialismus ohne Stalinismus glaubten.

1933 in der jüdischen Familie Marschak geboren (Schatrow war Mischas Pseudonym, denn es gab in der sowjetischen Literatur bereits Samuil Marschak), verwandt mit dem von Stalin umgebrachten ersten Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare Alexej Rykow, mit einer liebevollen Mutter bedacht, die Jahre im GULAG verbringen musste, fühlte sich Michail Schatrow der Entstalinisierungspolitik Nikita Chrustschows zutiefst verbunden und verpflichtet.

Er war eigentlich Politiker, nicht Künstler. Aber erstens stand seine jüdische Nationalität einer politischen Karriere in der Sowjetunion im Wege, zweitens hatte das Theater in der geschlossenen Gesellschaft eine andere Funktion. Die publizistischen Stücke »Die Bolschewiki«, »Blaue Pferde auf rotem Gras«, »Diktatur des Gewissens« und nicht zuletzt das in den letzten DDR-Monaten von unseren Altvorderen noch so dümmlich verbotene »Weiter, weiter, weiter ...« waren Schatrows politischer Beitrag für einen demokratischen Sozialismus.

Man mag das heute in Russland hochmütig belächeln, man mag das heute als naiv bezeichnen, aber Schatrow sah darin seine Mission. Und wir waren viele in der DDR, denen seine Stücke wichtige Denkanstöße gaben. In Mischas Arbeitszimmer hatte eine Foto von unserer Demonstration am 4. November 1989 einen Ehrenplatz – ein Mann mit einem Schild, auf dem »Weiter, weiter, weiter ...« zu lesen ist.

Im Oktober 1988, in der Zeit der Perestroika, war das Moskauer Lenkom-Theater mit Schatrows »Diktatur des Gewissens« im BE zu Gast. Mark Sacharows Inszenierung sah einen Dialog zwischen Bühne und Zuschauersaal vor – und unsere Zuschauer gingen auch darauf ein. Sie redeten. Himmel, was für eine Angst unsere Oberen da bekamen. Am nächsten Tag traten Schatrow und Sacharow in der Akademie der Künste auf, Christoph Schroth leitete die Diskussion – alle Akademiechefs hatten sich aus dem Staube gemacht, alle Westjournalisten hatte man ausgeladen. Heiner Müller und Volker Braun retteten die Ehre der ehrwürdigen Institution. – Mischa hatte große Hoffnungen auf Gorbatschow gesetzt. Er war verzweifelt, verletzt und entsetzlich deprimiert angesichts der dann einsetzenden Entwicklung in Russland.

Ich war lange seine Dramaturgin im Henschelverlag, auch in den letzten zwanzig Jahren sprachen wir oft miteinander. Die große Niederlage hatte ihn weicher, vielleicht sogar ein bisschen sentimental gemacht. Er ist seinen Überzeugungen bis zuletzt treu geblieben. Er ist sich selbst treu geblieben. Das zeugt von Charakter.

Leb wohl, Mischa! Die Erde möge Dir leicht sein!

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