Das Ende der Angst vor dem Sterben

Staatsoper im Schillertheater eröffnete mit Jens Joneleits Nietzsche-Oper »Metanoia – Über das Denken hinaus«

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Selbst das Datum, 3. Oktober 2010, stand im Dienste der Erhöhung der Wucht des Ereignisses. Es wurden gefeiert: die Welturaufführung einer Oper, die Eröffnung der neuen Saison, die erste Premiere unter der Leitung des neuen Staatsopernintendanten Jürgen Flimm, die Einweihung der Ausweichspielstätte für das Ensemble der Berliner Staatsoper während der für drei Jahre geplanten Rekonstruktion des Stammhauses und nicht zuletzt die wenigstens zeitweise Wiederbelebung eines Hochkulturtempels des alten Westberlin, des Schillertheaters. Alle waren dabei, vom Kulturstaatssekretär André Schmitz bis zum Anwalt Peter Raue, von Angelica Domröse und Hilmar Thate bis Alice Schwarzer.

Auch der Geist der Hauptperson des Abends, die sich bereits, so war es dem Programmbuch zu entnehmen, im Zustand des jenseitigen kontemplativen Lebens, also der wirklichen Metanoia, befindet, schwebte über der Bühne, der Geist Christoph Schlingensiefs.

Es war geplant, dass Schlingensief Jens Joneleits Nietzsche-Oper »Metanoia«, entstanden im Auftrag Daniel Barenboims, inszenieren sollte. Zwei Tage vor dem geplanten Probenbeginn starb er. Aus diesem Tod erwuchs ein basisdemokratischer Akt. Die 15 Beteiligten, Gesangssolisten, Studienleiter, Assistenten, der Chordirektor, der Dirigent, die Videokünstler, Dramaturgen, Ausstatter brachten auf die Bühne, was sie bis dahin hatten. Es gab das Stück, es gab die einstudierten Chöre und solistischen Partien, es gab die Kostüme, es gab einen Film und einige Teile des Bühnenbildes, Treppen, Podien und riesige Nachbildungen innerer Organe.

»Metanoia« sollte im Inneren des menschlichen Körpers spielen. Das Libretto spricht von Infektionen, Hygiene, Reiz-Reaktionen, Begierde, Traum. Der Kernsatz aber, der den kranken Schlingensief wohl ins Herz traf und zu dieser Idee brachte, heißt: »Sei doch froh, endlich mal einen Körper vor dir zu haben, der nicht vom Bewusstsein regiert wird. Hier macht eben jedes Organ, was es will. Das ist Evolution.«

Die fertigen Dickdärme und Blutgefäßteile standen nun im Hintergrund der Bühne, der Film flimmerte über sie hin.

Der Chor in wollenen Ganzkörpertrikots, die Solisten in rosa schimmernder großer Garderobe aus Plastikfolie nehmen oratorisch aufgestellt die Vorderbühne ein. Der erste Ton, ein mächtiges Orchestertutti überzeugt auf Anhieb: Man wird gut hören in den nächsten drei Staatsopern-Jahren. Die akustische Umarbeitung vom Schauspiel- zum Opernhaus ist gelungen.

Was aber ist es nun mit der »Metanoia«, der Umkehr, der Sinnesänderung, dem vollkommenen Wechsel der Perspektive? Im Disput dieses Opern-Oratoriums in fünf »Zuständen« soll sie errungen werden. Überzeugungen, geäußerte Meinungen, jede Art von Aktivität oder auch nur aktiver Haltung abzulegen, wird angestrebt. Das Ziel ist irgendwie buddhistisch. Man sollte in einen pur ästhetischen, toten, kontemplativen Zustand übergehen und damit an das Ende der Angst vor dem Sterben gelangen. So zumindest kann man es wiederum dem philosophie- und dramaturgie-satten Programmbuch entnehmen.

Mit dem puren Werk gedanklich etwas zu beginnen, ist deutlich schwieriger. René Pollesch hat die ersten 20 Seiten des Nietzsche-Werks »Die Geburt der Tragödie« in Heiner-Müller-Manier »überschrieben«, er selbst sagt, mit einem eigenen Text »beballert«. Aus diesem geschichteten Werk entnahm Jens Joneleit dann die Sätze für sein Libretto. Dass alle diese Sätze und Sinn-Fragmente irgendwie um das Thema einer körperbetonten Welt- und Selbstbetrachtung, des Rausches, des Traumes, des von Nietzsche definierten apollinischen und dionysischen Prinzips kreisen, kriegt man mit der Zeit mit.

Der Pfad dahin ähnelt allerdings über weite Strecken der Promenade eines neu eingekleideten Märchenkaisers. Mal wird über die Dummheit von Schlagertexten räsoniert, der Charaktertenor gnatzt »Ich kann heulen, solange es Menschen gibt«, dann singt der Bass, dass sich sein Retriever nicht mehr für Stöckchen, sondern für Farben und Formen der anderen Retriever interessiert, darauf stellt der Koloratursopran fest: »Denke ich, so bin ich. Doch wer wird immer auch denken.« – Man hat gewiss viel gedacht, während das Stück entstand, mehr als das Publikum auf Anhieb mitzudenken imstande war – jedenfalls war dergleichen auf den Gesichtern der Menschen abzulesen, die nach 70 kompakten Minuten zur Garderobe strebten.

Gehört hatten sie zumindest eine opulente Musik. Joneleit hat auf bewährte Wirkungen vertraut. Er gibt Referenzen an bekannte Grundmuster, Beethovens 9. Sinfonie zum Beispiel, er arbeitet mit satten Kontrasten, bietet Barenboim und der Staatskapelle das Futter orchestraler Fülle und erlesener Einzelklänge, vergibt deutlich erkennbare Rollenzuweisungen für die Solisten und den Chor. Der Charaktertenor, Graham Clark, klingt prononciert, leicht keifend, die Sopranistin, vorzüglich Anette Dasch, intensiv dramatisch, der Bass Alfred Reiter samtig, Bass-Bariton Daniel Schmutzhard eher kernig, die Koloratursopranistin Anna Prohaska zwitschert in unerreichbaren Höhen, der Chor leuchtet sanft …

Nächste Vorstellungen: 6., 8., 10., 12., 16.10.

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