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Das große Rätsel Stalinismus

Anté Ciligas Bericht über das Land der verwirrenden Lüge

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist bezeichnend, dass anlässlich des Todes des ehemaligen ZK-Mitglieds der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Verfolgten des Stalinismus und Verfasser eines der ersten größeren Berichte eines Überlebenden des Gulag, Anté Ciliga, im Jahr 1992 in Deutschland lediglich ein Nachruf erschien. Bei diesem handelte es sich zudem um eine Übersetzung eines Artikels des französischen marxistischen Historikers Philippe Bourrinet. Es ist ebenso bezeichnend, dass Bourrinet hier Ciliga eine überragende Bedeutung bei der Analyse des Stalinismus durch die linken Dissidenten der kommunistischen Bewegung und ihres Kampfes gegen diesen zuerkannte. Ciliga sei, so Bourrinet, »durch sein 1938 erschienenes Buch ›Au pays du grand mensonge‹ zum Sinnbild der Opposition gegen den Stalinismus und das unter Lenin, Trotzki und Stalin errichtete bolschewistische System des Staatskapitalismus« geworden.

Dass Ciligas Bericht in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist, während er in Frankreich, den USA und Großbritannien unter Linken zunächst nach seinem erstmaligen Erscheinen 1938, dann nach dem Zweiten Weltkrieg und zuletzt in den 70er Jahren (von der bei Champ Libre 1977 herausgegebenen Taschenbuchversion sollen in Frankreich 200 000 Exemplare verkauft worden sein) intensiv in der antistalinistischen Linken diskutiert wurde, verdeutlicht auch den lange Zeit provinziellen Charakter der bundesrepublikanischen Linken. Hinzu kam, dass die einzige Übersetzung 1953 in der Reihe »Rote Weißbücher« des im Kalten Krieg streng auf der Linie des Westens agierenden Verlages für Politik und Wirtschaft erschien, die nicht nur wegen ihres stark gekürzten Charakters das Buch für Linke wenig attraktiv machte.

Dabei hat »Im Land der verwirrenden Lüge«, so die deutsche Übersetzung des Titels, mehr zu bieten als eine autobiografische Skizze des Leidenswegs des 1926 als Lehrer an die jugoslawische Parteischule in der Sowjetunion übergesiedelten Kommunisten, seinen Weg in die um Trotzki herum organisierte Linke Opposition und schließlich die Geschichte seiner Verbannung in die verschiedenen Lager des sowjetischen Gulag.

Zunächst stellte Ciligas Bericht erstmalig die Diskussionen innerhalb der verschiedenen verfolgten Fraktionen der bolschewistischen Partei dar, die Ende der 30er Jahre im Westen noch weitgehend unbekannt waren und heute längst wieder vergessen sind. Die Positionen nicht nur der verschiedenen Gruppen der Linken Opposition, von Ciliga zunehmend als »Opposition innerhalb der herrschenden Bürokratie« klassifiziert, sondern auch kleinerer auf die Selbsttätigkeit der entmündigten russischen Arbeiterklasse ausgerichteten Gruppen wie der Arbeitergruppe oder der Demokratischen Zentralisten (Dezisten) wurden so einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dass dies ausgerechnet durch einen Häftling geschehen konnte, wirft ein bezeichnendes Bild auf die Sowjetunion der 30er Jahre, denn, so Ciliga, das Gefängnis sei in Sowjetrussland der einzige Ort gewesen, »an dem sich die Leute auf mehr oder weniger ernsthafte Weise ausdrücken können«.

Aber auch in der von Bourrinet angedeuteten analytischen Hinsicht hatte und hat im »Land der verwirrenden Lüge« Interessantes zu bieten. Denn entgegen den in den 30er Jahren noch präsenten Analysen des Stalinismus als Bonapartismus oder eines »bürokratisch entarteten Arbeiterstaates« (Trotzki), die den sozialistischen Charakter der Sowjetunion nicht grundsätzlich in Frage stellten, beschreibt Ciliga die Entwicklung des Landes als einen Sieg des »Staatskapitalismus über den Privatkapitalismus« und »staatliche Diktatur über das Proletariat«, wie er sie auch im Westen durch Faschismus und New Deal zu beobachten glaubte. Belegt wird dies durch die zahlreichen Darstellungen der Lebensrealität der sowjetischen Arbeiter und Bauern und ihrer spezifischen staatlich organisierten Ausbeutungsbedingungen, für die der Funktionär Ciliga sich einen präzisen Blick erhalten hatte. So kommt er zu einem deprimierenden Fazit bezüglich der auch im Westen bewunderten Aufbauleistungen des jungen Sowjetstaates: »Die gigantischen Verwirklichungen des Fünfjahresplans waren das Werk von Sklavenarbeit. Die gesellschaftliche Lage der theoretisch freien Arbeiter unterschied sich übrigens nicht wesentlich von der der Arbeiter, die nicht frei waren. Das was den Unterschied ausmachte, war der Grad der Versklavung.«

Dass der kleine Verlag »Die Buchmacherei« und die beiden Herausgeber Jochen Gester und Willi Hajek sich an eine Neuausgabe von Ciligas Bericht gewagt haben, dem sie noch einen biografischen Essay zum Autoren von Stephen Schwartz angefügt haben, könnte sich auf die weitere Beschäftigung mit dem Stalinismus als des nach wie vor existenten »großen Rätsels« (so der Titel der englischen Ausgabe) für die Linke des 20. und auch noch 21. Jahrhunderts als großes Glück erweisen, auch wenn sich Ciliga selbst seit den 40er Jahren von dieser bereits verabschiedet hatte.

Leider haben die Herausgeber nur die gekürzte Version auf den Markt gebracht, ins Internet aber immerhin die englische Langfassung gestellt. Ob Anté Ciligas Buch in Deutschland einen ähnlichen Stellenwert wie etwa in Frankreich erhalten wird, bleibt abzuwarten.

Anté Ciliga: Im Land der verwirrenden Lüge. Verlag Die Buchmacherei, Berlin. 303 S., geb., 12 €.

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