Signifikant erhöhte Krebsraten

Streit um Strahlung aus dem AKW Brokdorf als möglichen Auslöser vermehrter Erkrankungen

  • Reinhard Schwarz, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Atomkraftwerke rund um Hamburg sorgen immer wieder für Aufregung. Gab es beim AKW Krümmel jahrelang Streit um Leukämie-Erkrankungen, so kommt nun das AKW Brokdorf ins Gerede. Denn im nahen Dorf Wewelsfleth weist das Krebsregister Schleswig-Holstein gleich für mehrere Krebsarten eine Erkrankungsrate über dem Landesschnitt aus. Anders als Lübecker Epidemiologen sehen Bremer Umweltmediziner einen Zusammenhang zum AKW.

Ein Fremdwort beunruhigt die Bewohner des schleswig-holsteinischen Dorfes Wewelsfleth: »signifikant«. Das bedeutet laut Duden so viel wie »wichtig, bedeutsam«. Über die Gemeinde an der Stör in der Wilstermarsch schreiben die Wissenschaftler: »Es zeigten sich regelmäßig hohe, wenn auch nicht statistisch signifikant erhöhte Krebsraten.« Wewelsfleth liegt in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerks Brokdorf. Hier produziert seit 1986 ein Druckwasserreaktor Strom. Früher gehörte der Reaktor der Preussen Elektra und den Hamburger Electricitätswerken (HEW). Mittlerweile sind die beiden Unternehmen in den Energiekonzernen E.on bzw. Vattenfall aufgegangen.

Naheliegend wäre es nun zu fragen, ob das AKW Brokdorf mit den erhöhten Krebszahlen etwas zu tun haben könnte. Diese Frage stellten sich auch die Mitarbeiter des Krebsregisters. Die Antwort ist: nein. Wissenschaftlich formuliert klingt das so: »Schlüssige Hinweise für das Kraftwerk Brokdorf als Ursache lassen sich aus den Daten nicht ableiten.« Begründung: Krebsarten, die typischerweise durch radioaktive Strahlung verursacht werden, wie Leukämie und Lymphome (Lymphknotenbefall), träten nicht gehäuft auf. Stattdessen zeige sich »eine statistisch signifikante Erhöhung für Prostatakrebs« sowie für Darm- und Harnblasenkrebs.

Was könnten nun die Ursachen für die »signifikant« erhöhten Krebszahlen in Wewelsfleth sein? Hier stochert die Wissenschaft im Nebel. Auch die Arbeit in den in Wewelsfleth ansässigen Werften, auch den ehemaligen, wird als Ursache ausgeschlossen. Bleibt also nur noch das, was die Wissenschaft als »individuellen Lebensstil« und »soziale Deprivation« (Mangel, Verlust) bezeichnet. Aber auch hier konnten »Indikatoren nicht bzw. nur in geringem Maße gezeigt werden«. Meint: So viel paffen die Küstenbewohner nun auch wieder nicht, dass es für die über dem Schnitt liegende Zahl der Lungenkrebserkrankungen ausreichen könnte. Und so heißt es lapidar: »Es ist anzunehmen, dass eher eine Kombination mehrerer Ursachen wie Lebensstil, genetische Ursachen usw. zu der beobachteten unspezifischen Erhöhung geführt hat.«

Mit diesem Ergebnis wollen sich externe Wissenschaftler nicht zufrieden geben. Sie fordern eine genauere Untersuchung der betroffenen Bevölkerung. Als genauestes Instrument zur Untersuchung von Strahlenschäden gilt die Chromosomenaberration, so Fritz Storim von der Bremer Messstelle für Arbeits- und Umwelt-Schutz e.V. (MAUS): »Hierbei handelt es sich um eine der empfindlichsten Untersuchungsmethoden. So lassen sich bei Strahlenschäden Brüche in den Chromosomen nachweisen.« Diese Methode sei etwa nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl angewandt worden, so Storim. Sie sei allerdings sehr aufwendig, weil Blutproben unter dem Mikroskop untersucht werden müssten. Mit der Beweisführung der Lübecker Wissenschaftler ist der Physiker nicht zufrieden: »Erklärungen werden aus dem Handgelenk geschüttelt, es fehlt eine wissenschaftliche Begründung.« Seriöse Ursachenforschung werde nicht betrieben.

Diese fordert nun der Gemeinderat von Wewelsfleth. »Die Gemeindevertretung hat beschlossen, die Landesregierung aufzufordern, eine Ursachenforschung zu veranlassen«, erklärte Bürgermeister Ingo Karstens (SPD). Karstens ist selbst Betroffener: Zwei Ehefrauen starben 2002 und 2009 an Krebs.

Die Grünen im Kieler Landtag wollen demnächst eine Kleine Anfrage zu dem Thema stellen, sagte Marret Bohn, Landtagsabgeordnete und gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Partei. Sie erinnerte daran, dass auch erhöhte Leukämiezahlen in der Nähe des AKW Krümmel (an der Elbe bei Geesthacht) »lange Zeit bestritten wurden«.


Streitfall Strahlung

Nicht große Havarien in Atomkraftwerken sorgen seit Jahren für Debatten, sondern die Risiken des normalen Betriebs. Denn auch da – so Kritiker – komme es zu radioaktiver Strahlung, die die Gesundheit der Anwohner gefährdet. AKW-Betreiber und die zuständigen Behörden sehen das ganz anders. Für sie ist das alles eine Frage der Grenzwerte und die würden in der Umgebung aller deutschen AKW unterschritten.

Auslöser des langjährigen Streits über die gesundheitlichen Auswirkungen ständiger Niedrigstrahlung war eine erhöhte Zahl von Leukämieerkrankungen bei Kindern in der Umgebung des AKW Krümmel und der Großforschungseinrichtung »Gesellschaft zur Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt« (GKSS) in Geesthacht an der Elbe bei Hamburg. Seit 1990 sind in einem Fünf-Kilometer-Umkreis 19 Kinder an Blutkrebs erkrankt. Statistisch wären in dem Gebiet nur fünf Erkrankungen zu erwarten.

Eine Studie des Kinderkrebsregisters Mainz, das seit 1980 Krebsneuerkrankungen von Kindern in der Bundesrepublik erfasst, sollte Klarheit bringen. Dabei wurden die Leukämie-Erkrankungsraten in Abhängigkeit vom Abstand zu existierenden AKW erfasst. Die Vorstellung der Ergebnisse führte 2007 im externen Expertengremium des Bundesamts für Strahlenschutz zum Eklat. Zwei Mitglieder des Gremiums – der Bremer Epidemiologe Eberhard Greiser und sein Greifswalder Kollege Wolfgang Hoffmann – stellten die Deutung der Zahlen durch die Mainzer Studienleiterin Maria Blettner in Frage, wonach es keinen Zusammenhang zu den AKW gebe. Greiser und Hoffmann hingegen sahen diesen Zusammenhang, weil die Zahl der Leukämiefälle in der Tat mit zunehmendem Abstand zu den Meilern abnimmt.

Und jüngst wurde auch im Umfeld der abgesoffenen Schachtanlage Asse, der Versuchsdeponie für Atommüll, eine erhöhte Zahl von Erkrankungen an Leukämie bei Männern und an Schilddrüsenkrebs bei Frauen beobachtet. Wie in den vorangegangenen Fällen wird über die Ursache gestritten. StS

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal