Unter eigene Regie stellen

Beschäftigte des Naturtextil-Versandhauses im hessischen Butzbach wollen ihren Betrieb retten, indem sie ihn kaufen

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 6 Min.
Das US-amerikanische Unternehmen Carlyle Group möchte nach Medieninformationen den vor 35 Jahren gegründeten Ökotextilversand hessnatur übernehmen. Die Private-Equity-Gesellschaft gehört zu den weltweit größten Finanzinvestoren. Sie steht in der Kritik, weil sie in Rüstungsunternehmen investiert.
Das US-amerikanische Unternehmen Carlyle Group möchte nach Medieninformationen den vor 35 Jahren gegründeten Ökotextilversand hessnatur übernehmen. Die Private-Equity-Gesellschaft gehört zu den weltweit größten Finanzinvestoren. Sie steht in der Kritik, weil sie in Rüstungsunternehmen investiert.

Kreative Arbeitsatmosphäre und Aufbruchstimmung waren deutlich zu spüren, als Ende letzter Woche im Frankfurter Gewerkschaftshaus engagierte Betriebsräte des Ökotextil-Versandhauses Hess Natur Textilien GmbH (hessnatur) aus dem mittelhessischen Butzbach, Attac-Aktivisten, Genossenschafts-Experten und Verfechter einer solidarischen Ökonomie aus dem ganzen Bundesgebiet zusammen kamen. Sie haben sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Sie wollen mit einer Genossenschaft die langfristige Zukunft des Unternehmens sichern und den drohenden Verkauf des 1976 gegründeten Betriebes an den US-amerikanischen »Heuschreckenfonds«, Finanzinvestor und Rüstungskonzern Carlyle verhindern.

Auf diesem Weg haben die ehrgeizigen und unermüdlichen Akteure in den letzten Wochen wichtige Etappen zurückgelegt. Mitte März gründeten sie die Genossenschaft zur Weiterführung von hessnatur und schufen damit den juristischen Unterbau für die erhoffte Übernahme des Betriebes. Über 2000 Menschen – Kunden, Lieferanten und Mitarbeiter – haben schriftlich bekundet, dass sie Anteile an der Genossenschaft zeichnen wollen, Tendenz steigend. Das Treuhandkonto soll möglichst bald eröffnet werden.

Als Vorstandsmitglieder der Genossenschaft fungieren der Betriebsratsvorsitzende Walter Strasheim-Weitz, seine Stellvertreterin Christina Pöttner sowie Dagmar Embshoff, die sich seit Jahren für die Vision einer solidarischen Ökonomie engagiert und auf der Suche nach einem praktischen Referenzmodell bei hessnatur fündig geworden ist. Das Trio verkörpert somit betriebliche Kompetenz ebenso wie den breiteren Horizont der Erfahrung mit Genossenschaftsmodellen in aller Welt.

Kunden an der Seite der Belegschaft

»Die große Mehrheit der Belegschaft ist überzeugt, dass eine Genossenschaft für uns das Wahre ist«, sagt Walter Strasheim-Weitz, der seit 19 Jahren dem Betrieb im idyllischen Fachwerkstädtchen Butzbach angehört. Wie seine Kollegin Christina Pöttner arbeitet der 48-Jährige in der Finanzbuchhaltung. Zehn stürmische Jahre mit mehreren Eigentümerwechseln haben sie hinter sich. Der Betrieb, der um die Jahrtausendwende ins Schlingern geriet und massiv Personal abbaute, wurde vom inzwischen verstorbenen Gründer Heinz Hess zunächst an Neckermann verkauft, geriet dann zu Karstadt-Quelle und Arcandor. Nach den Erfahrungen auf »stürmischer See« sehne man sich jetzt nach dem »sicheren Hafen einer Genossenschaft«, so der Betriebsrat. Im Gegensatz zur Praxis in Aktiengesellschaften soll bei der angestrebten Genossenschaft jeder Anteilszeichner unabhängig vom eingesetzten Geldbetrag nur eine Stimme bekommen. Damit wäre eine »feindliche Übernahme« von hessnatur weitgehend ausgeschlossen.

Strasheim-Weitz kam Anfang der 1990er Jahre eher aus Zufall in den Butzbacher Betrieb, der nur sechs Kilometer von seinem Wohnort in der Wetterau nördlich von Frankfurt am Main entfernt liegt. Weil er schon damals für ökologische Fragen aufgeschlossen war, spürte er rasch, dass er in diese Firma passt. Schließlich dient die Philosophie des Firmengründers, der als Pionier der ökologischen und fair gehandelten Textilien gilt, noch heute als Leitlinie. »Echtes starkes Engagement für Mitarbeiter und Umwelt zeigt allein der Naturmodeanbieter hessnatur«, lobte die Stiftung Warentest im Sommer 2010. Diese »ideelle Klammer« prägt das Bewusstsein großer Teile der 370-köpfigen Belegschaft, die überwiegend in den Bereichen Logistik, Verwaltung und Kundenbetreuung tätig ist.

Als Ende 2010 bekannt wurde, dass Carlyle ein Auge auf hessnatur geworfen und im Zuge der Arcandor-Pleite bereits andere Spezialversender aus dem »Karstadt-Quelle-Mitarbeiter-Trust« übernommen hatte, schrillten bei der Belegschaft die Alarmglocken. »Carlyle und hessnatur passen so gut zusammen wie der Teufel und das Weihwasser«, so der Betriebsrat. Die aufgeklärte Kundschaft wolle eine sozial und umweltverträgliche Produktion von Textilien fördern und werde sich daher nach einer Übernahme durch Carlyle unweigerlich von hessnatur abwenden, so seine Befürchtung. Damit drohe ein Umsatzeinbruch und ein rascher Personalabbau um 30 Prozent, fürchtet Strasheim-Weitz. Noch ist der Betrieb kerngesund und wirtschaftlich erfolgreich. 2010 stieg der Umsatz von 58 auf 60 Millionen Euro.

Als am 17. Dezember vergangenen Jahres Attac-Aktivisten vor dem Firmengelände im verschneiten Butzbach gegen eine Übernahme durch Carlyle protestierten, schloss sich ein Großteil der Beschäftigten in der Mittagspause den Demonstranten an. Eine von Attac angestoßene bundesweite Protest- und Unterschriftenkampagne gegen einen Verkauf an Carlyle dürfte ihre Wirkung nicht verfehlt haben, zumal Carlyle negative Schlagzeilen und eine kritische öffentliche Debatte über seine Praxis scheut. 8000 Kunden unterschrieben einen Boykottaufruf, sollte hessnatur von Carlyle übernommen werden. »Die Aktion kam genau zum richtigen Zeitpunkt, sonst wären wir jetzt schon verkauft«, ist der Betriebsratsvorsitzende überzeugt. So entwickelte sich Vertrauen zwischen der Belegschaft und den Vorkämpfern eines solidarischen Wirtschaftens.

Dies spürte auch Dagmar Embshoff, als sie im Januar bei Betriebsratsmitgliedern mit ihrer Genossenschaftsidee auf offene Ohren stieß. Die Geografin war in den 1990er Jahren durch die Jugendumweltbewegung politisiert worden und hat sich intensiv mit internationalen Genossenschaftsbewegungen beschäftigt. Aus der Erkenntnis heraus, dass es – anders als in Südamerika, Frankreich, Spanien oder Italien – solche Genossenschaftsansätze hierzulande bisher kaum gab, wurde sie Mitbegründerin des bundesweiten Netzwerks Solidarische Ökonomie. Im September will die 35-Jährige bei der Gründung eines europaweiten Netzwerks dabei sein.

Bei einer Studienreise nach Italien im Jahr 2009 konnte Embshoff mehrere Betriebe in Belegschaftshand besichtigen. Die dortige Genossenschaftsbewegung erfuhr in den 1980er Jahren einen starken Impuls – vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, in der viele Betriebe ins Schlingern kamen. Um der zunehmenden Massenarbeitslosigkeit entgegen zu wirken, entwarf der damalige Industrieminister Giovanni Marcora ein Gesetz zur Förderung von Kooperativen und zur Weiterbeschäftigung der Mitarbeiter.

Die Grundidee des Marcora-Gesetzes: Statt Arbeitslosenunterstützung für die Betroffenen sollte der Staat lieber mit einer Art Anschubfinanzierung den neu gegründeten Genossenschaften unter die Arme greifen. Somit könnten Sozialversicherungsleistungen in produktive Aktivität umgewandelt werden. Der Verlust von Fachkenntnissen sollte damit ebenso verhindert werden wie der Kahlschlag in den Regionen. 1987 bis 1996 förderte das Gesetz die Entstehung von 159 Produktivgenossenschaften und die Rettung von 6000 Arbeitsplätzen, erfuhr Dagmar Embshoff.

Für mehr Demokratie in der Ökonomie

Da in einigen Landstrichen schon zuvor eine Tradition bestanden hatte, wonach betroffene Arbeiter und Angestellte in Krisenzeiten durch solidarische Selbsthilfe Wege suchten, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten, fiel das Gesetz auf einen fruchtbaren Boden. Dieses Anliegen wurde auch von den drei großen Gewerkschaftsbünden unterstützt. Unter dem Druck der EU-Kommission, die »Wettbewerbsverzerrungen« zu erkennen glaubte, wurde die Anwendung des Marcora-Gesetzes übrigens 1996 suspendiert, die Bestimmungen wurden in einer Neufassung abgeschwächt. »Natürlich wünschen wir uns auch finanzielle Unterstützung für Betriebsfortführungen in Deutschland«, so Dagmar Embshoff. Dabei gehe es aber nicht um eine Übertragung des Gesetzes eins zu eins. So wäre insbesondere der in Italien vorgesehene Verlust des Anspruchs auf bestimmte Sozialleistungen durch die Genossenschaftsgründer in der Belegschaft hier »undenkbar und nicht wünschenswert«.

Bis hessnatur nun ein genossenschaftliches Pionier- und Vorzeigeprojekt für mehr Demokratie in der Ökonomie und als Alternative zur privatkapitalistischen Gewinnorientierung werden kann, sind noch etliche Hindernisse zu überwinden. Mit einer Website, Flugblatt-Aktionen und Veranstaltungen zur Vorstellung des Vorhabens und zur Gewinnung neuer Genossen müssen jetzt die Gelder zusammen kommen, mit denen die neue Genossenschaft beim kommenden Bieterverfahren den Betrieb erwerben will. Die anvisierte Summe ist kein Pappenstiel, schließlich geht es um einen Betrag in zweistelliger Millionenhöhe. Sollte der Kauf platzen, erhalten die Genossenschaftsmitglieder ihr Geld zurück. »Wenn es uns gelingt, dann werden wir, abgesehen von Genossenschaftsbanken, eine der größten Genossenschaften bundesweit«, hofft Walter Strasheim-Weitz.

www.hngeno.de
www.solidarische-oekonomie.de

370 Beschäftigte arbeiten bei hessnatur. Im März 2011 gründeten Mitarbeiter, Kunden, Engagierte von Attac, dem Netzwerk Solidarische Ökonomie, dem Genossenschaftsverband und der Genossenschaftsberatung innova eG eine Genossenschaft. Damit wollen sie den Verkauf ihres Unternehmens verhindern und den Betrieb unter eigener Regie fortführen. Vorstandsmitglieder sind Dagmar Embshoff, Walter Strasheim-Weitz und Christina Pöttner (v.l.n.r.).
370 Beschäftigte arbeiten bei hessnatur. Im März 2011 gründeten Mitarbeiter, Kunden, Engagierte von Attac, dem Netzwerk Solidarische Ökonomie, dem Genossenschaftsverband und der Genossenschaftsberatung innova eG eine Genossenschaft. Damit wollen sie den Verkauf ihres Unternehmens verhindern und den Betrieb unter eigener Regie fortführen. Vorstandsmitglieder sind Dagmar Embshoff, Walter Strasheim-Weitz und Christina Pöttner (v.l.n.r.).
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