Banker und Randalierer waren Brüder im Geiste

Die Labour-Abgeordnete Diane Abbott zu Hintergründen der jüngsten Jugendkrawalle in Großbritannien

  • Reiner Oschmann, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Diane Abbott (58), Tochter jamaikanischer Einwanderer, kam 1987 für die Labour Party als erste schwarze Frau ins britische Parlament. Ihr Wahlkreis in Hackney liegt nordöstlich des Londoner Zentrums und in Nachbarschaft zu Tottenham, wo Anfang August die
Diane Abbott (58), Tochter jamaikanischer Einwanderer, kam 1987 für die Labour Party als erste schwarze Frau ins britische Parlament. Ihr Wahlkreis in Hackney liegt nordöstlich des Londoner Zentrums und in Nachbarschaft zu Tottenham, wo Anfang August die

ND: Haben die Krawalle Sie überrascht?
Abbott: Die Bilder, die ich sah, haben mich schockiert, aber nicht überrascht. Ich erinnere mich an die Ausschreitungen in Broadwater Farm vor 26 Jahren, als Tottenham schon einmal in Flammen stand. So wie damals gibt es keine Entschuldigung für Gewalt. Es steht außer Frage, dass hirnlose Gangster die Unruhen ausnutzten. Doch ebenso wie bei den ersten Krawallen von 1985 sind manche Mitbürger wie ein Pulverfass, das nur darauf wartet hochzugehen. Der Stadtrat von Haringey etwa muss Haushaltskürzungen von 41 Millionen Pfund (ca. 53 Millionen Euro - R.O.) verkraften und Betreuungsangebote für Jugendliche um 75 Prozent verringern. Die Streichung finanzieller Ausbildungsbeihilfen trifft Haringey hart, denn Tausende von Collegebesuchern sind darauf angewiesen. Noch mal: Keines dieser Dinge rechtfertigt Krawall und Plünderung. Doch die Kürzungen bei Jobs und Dienstleistungen führen seit längerem zu einem Klima der Wut, Frustration und Verzweiflung in vielen Städten.

In Rechnung gestellt, dass es ein Bündel von Ursachen für die Krawalle gibt - welche Faktoren ragen heraus?
Hierzu haben wir bisher zu viele grobe Vereinfachungen gehört. Ausgabenkürzungen erzeugen ebenso wenig Kriminalität wie Armut. Die Ursachen sind langfristig, komplex und schwer zu beseitigen. Deshalb müssen wir ohne Zögern und Angst fragen, wie es so weit kommen konnte. Schließlich darf sich solch ein Ausbruch nicht wiederholen, jetzt, da die Lebenshaltung der Menschen in der Wirtschaftskrise auf dem Spiel steht, Spannungen angefacht werden und für London die Olympischen Spiele am Horizont auftauchen. Eben hat Innenministerin Theresa May eilfertig verkündet, dass es für Politiker nicht hilfreich sei, darüber zu spekulieren, was schief gelaufen ist, und dass sie überzeugt sei, dass der Hintergrund nichts anderes als Kriminalität wäre. Auch Premier David Cameron erklärt die Krawalle allein mit »Kriminalität« - und macht mit der Begründung halt, eine Erklärung zu suchen, hieße, sie zu entschuldigen.

Und was sagen Sie?
Wir müssen anerkennen, dass Britannien dabei versagt, viele unserer städtischen Gemeinden mit sinnvoller Arbeit und einer Zukunftsperspektive zu versorgen. Für viele, die sich an den Krawallen beteiligten, drückte jene Woche die Ablehnung der Zukunft aus, die sie für sich sehen. Wirtschaftliche Ungleichheit, reines Konsumdenken und schwere Ausgabenkürzungen durch die Regierung vermitteln vielen ärmeren Mitbürgern ein tiefes Gefühl der Aussichtslosigkeit. Der Zugang zu Medien und Informationsaustausch bedeutet für manche der Ärmsten im Lande Fortschritt und Chance. Aber zugleich unterhöhlen Massenkonsum und bestimmte Erscheinungen des Medienalltags viele der sozialen Netze, in denen die Gemeinschaften gewachsen sind - unaufhörliche Konsumreklame, Sender wie MTV und Sofortnachrichten über SMS ersetzen vielfach scheinbar Familienstrukturen, Bildungsverpflichtungen und Zusammenkünfte in der Gemeinde.

Sind diese Probleme auf die Großstädte begrenzt?
Keineswegs. Die »Kultur« des »Werd? reich oder stirb beim Versuch, es zu werden« enthält Treibstoff für die Bankenkrise wie für einige der Straßenkrawalle. Jene Banker, die die Wirtschaft in die Rezession zerrten, trafen die gleichen Fehlurteile und Fehlkalkulationen wie jene, die auf den Straßen randalierten und das Land in die Verzweiflung zogen. Vielfach glaubten beide Gruppen, in einer sich schnell wandelnden Wirtschaft eine Abkürzung zum Reichtum gefunden zu haben. Tragischerweise waren beide auch noch der irrigen Annahme, dies würde folgenlos bleiben.

Wer ist politisch schuldig - Cameron? Blair? Thatcher? Der Kapitalismus?
Die Ursachen sind langfristig und komplex. Grundlinien von Cameron, Blair und Thatcher haben allerdings ihren Anteil an den langfristigen Gründen. Aber es geht hierbei nicht um Sündenböcke. Wir müssen mit den Betroffenen sprechen und sie anhören - so muss es beginnen.

Was halten Sie von den bisherigen Gegenmaßnahmen?
Teile der Konservativen sind in »law and order«-Fieber verfallen. Es gab unverantwortliches Gerede über den Einsatz der Armee, Wasserkanonen, Gummigeschosse, sogar Panzer in die Hauptstraße von Stoke Newington in meinem Wahlbezirk. Inzwischen gibt es Zwangsräumungen von Wohnungen und Leistungskürzungen. Ich glaube, dass automatische Antworten auf die Unruhen deplatziert sind. Komplexe Probleme erfordern sorgfältige Lösungen, keine Schlagzeilen-Sprüche.

Britische Kinder sind in einer UNICEF-Studie - wegen fehlender innerfamiliärer Bindungen und der Fallen des Massenkonsums - gerade zu »den unglücklichsten in der industrialisierten Welt« erklärt worden. Was sagen Sie dazu im Lichte der Krawalle?
In der Post-Thatcher-Generation kämpfen viele Jugendliche mehr als je zuvor mit ihren Gefühlen. Wir stellen eine Unfähigkeit fest, auf Belohnung und andere Gratifikation zu warten - gleich, ob bei Essen, Alkohol, Geld oder Sex. Dies wird zu einem Kennzeichen unserer Zeit, verstärkt durch Werbung und Medien. Ein Beispiel: Bereits mit zehn kennt ein britisches Kind die Namen von fast 400 Markenartikeln.

Was sollte jetzt vor allem getan werden, um die Lage zu verbessern?
Miteinander reden und frei von Beklemmung fragen, warum und wie dies geschehen konnte. Wir brauchen einen nationalen Dialog.

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