Ein Zeichen für bessere Integration

Schulkarrieren von vietnamesischen Schülern in Deutschland werden immer schwieriger

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 5 Min.
Vietnamesische Schüler in Deutschland sind die Vorzeigekinder der Integrationsdebatte. Die Mehrzahl hat Abitur, spricht gut Deutsch. Doch der Erfolg wird von den Eltern oft durch Drill erzwungen. Dass jetzt immer weniger vietnamesische Grundschüler den Sprung aufs Gymnasium schaffen, muss daher nicht unbedingt schlecht sein, sagen Experten.

Sie stellen grundlegende Thesen der Bildungsforschung auf den Kopf: Vietnamesische Schüler an deutschen Schulen. In vielen Schulen in den neuen Bundesländern sind sie die Leistungsträger. Und diese Erfolge erreichen sie, obwohl die Eltern nur selten Deutsch sprechen und oft in schwierigen sozialen Verhältnissen leben. Die Eltern arbeiten oft rund um die Uhr in kleinen Familienläden. Und das Geld reicht trotzdem nur für das Nötigste.

Doch diese Erfolgskarriere wird zumindest in Berlin, der Stadt mit der bundesweit größten vietnamesischen Gemeinde, unterbrochen. Das zeigte eine Fachtagung im November letzten Jahres auf. Noch, so Tamara Hentschel vom Verein »Reistrommel«, gibt es die vielen ausgezeichneten vietnamesischen Abiturienten. Aber immer weniger vietnamesischstämmige Grundschüler schafften den Sprung aufs Gymnasium. »Die Schulkarriere beginnt im Grundschul- und Kitabereich schwieriger zu werden«, so Hentschel.

Der Erziehungswissenschaftler Olaf Beuchling von der Universität Hamburg sieht auch bundesweit einen »leichten Abwärtstrend der Zahlen vietnamesischer Gymnasiasten«. Das weise die amtliche Schulstatistik aus, so der Wissenschaftler. Beuchling: »In anderen Regionen ist dieser Trend nicht so stark ausgeprägt wie in Berlin, wo etwa jeder sechste in Deutschland lebende Vietnamese wohnt.« Doch auch in den alten Bundesländern liegt der Anteil vietnamesischer Abiturienten laut amtlicher Statistik schon niedriger als in den Ost-Ländern. Beuchling erklärt das damit, dass die Einwanderung von vietnamesischen Familien im Westen eher begann. Die Werte gleichen sich als Folge der Integration denen der Einheimischen an.

Und das muss nicht schlecht sein, denn, so Beuchling, »mit der Integration wird Bildung nicht mehr wie im Konfuzianismus üblich als das einzige und allerhöchste Ziel angesehen. In der politischen Diskussion werden Integration und Glück viel zu stark an Bildung festgemacht.« Wenn die Bildungsintegration funktioniere, sei die Integration insgesamt aber nicht automatisch gelungen. Beuchling weiß aus Studien von vietnamesischen Schülern, die unter Druck zum Lernen gezwungen werden und daran zu zerbrechen drohen. Detlef Schmidt-Ihnen, Schulleiter des Berliner Barnim-Gymnasiums, in dem viele vietnamesische Schüler lernen, hat das in seiner Schule beobachtet. »Bei den jüngeren Schülern haben wir ab und zu Eltern, die zum Teil in Deutschland aufgewachsen sind. Sie prügeln ihre Kinder nicht mehr zum Lernen. Und das ist gut für die Kinder.«

Hintergründe illustriert Thang Nguyen. Der Mitfünfziger ist Informatiker und spricht ausgezeichnet Deutsch. Viele seiner Landsleute wenden sich an ihn, wenn sie Probleme haben. »Beispielsweise hat sich eine Mutter um ihre Tochter gesorgt: Das Mädchen lese in ihrer Freizeit Bücher. Das hielt die Mutter für Zeitverschwendung. »Die Mutter wollte, dass ihre Tochter lernt und nicht liest«, sagt Nguyen. Wie viele vietnamesische Zuwanderer auch ist diese Mutter durch den Konfuzianismus geprägt. Der sieht Lernen als etwas vor allem reproduktives: Die Schüler sollen das wiedergeben, was Lehrmeinung ist. Selbständiges Denken, eigene Interessen und Kreativität schätzt der Konfuzianismus nicht, es stört eher.

Elena Marburg ist Migrantenbeauftragte von Berlin-Marzahn. Sie sieht sowohl den Erfolg als auch die Kehrseiten des vietnamesischen Bildungswunders im Konfuzianismus begründet. »Der Konfuzianismus macht viele kleine Vietnamesen zu Musterschülern, denn im Konfuzianismus ist Aufstieg durch Bildung möglich.« Aber der Konfuzianismus lehre auch stark strukturierte Beziehungen, die strikte Unterordnung von Jüngeren unter Ältere und er lehne selbstständiges Denken ab. »Der Bildungserfolg hat also leider auch eine Kehrseite«, sagt Marburg.

Die Initiatoren der Tagung wiesen auf Probleme hin, die wegen des Medienbildes der erfolgreichen Schüler oft unter den Tisch fallen. Die Anforderungen aus dem Elternhaus, die in einem guten Bildungsabschluss der Kinder eine Garantie für die Zukunft der ganzen Großfamilie sehen, stellen die Schüler oft unter Leistungsdruck. Zudem müssen viele vietnamesische Schüler im elterlichen Geschäft mithelfen und verfügen darum kaum über selbstbestimmte Freizeit. Jugendämter in Berliner Osten sind zunehmend mit kleinen Vietnamesen konfrontiert, die sich von ihrer Herkunftskultur entfremden und lieber in einem Kinderheim leben wollen als bei den Eltern. Sie haben darum Projekte aufgelegt, um die Erziehungskompetenz der Familien zu stärken.

Norbert Kaczmarek beispielsweise ist als Familienhelfer auf vietnamesische Familien spezialisiert. Er sagt: »Es ist für professionelle Helfer oft schwer auszuhalten, wie wenig einige vietnamesische Kinder Kind sein dürfen.« Die Folge: viele Jugendhilfefälle, psychische Erkrankungen und suizidgefährdete Jugendliche. Da diese Jugendliche keine Gewalt nach außen ausüben, sondern gegen sich selbst, sind ihre Probleme in der Öffentlichkeit weniger präsent. Und Elena Marburg nennt ein Phänomen, das gar nicht in der öffentlichen Diskussion ist: Laut amtlicher Statistik besuchen 15 Prozent der vietnamesischen 16-Jährigen gar keine Schule. Sie sind oft als Asylbewerber eingereist und stehen unter Druck, ihre Schlepperschulden abzuarbeiten und ihre Familien finanziell zu unterstützen.

Das Problem schlägt inzwischen auf die zweite Generation durch, erzählt Phan Huy Thao vom Verein »Reistrommel«. Denn die vietnamesischen Berliner im Kita- und Grundschulalter sind meist nicht mehr Kinder von ehemaligen DDR-Vertragsarbeitern und Bootsflüchtlingen sondern von diesen bildungsfernen Asylbewerbern. Mit Hilfe von Schlepperbanden und hoch verschuldet kamen sie hier an. »Die Kinder waren oft keine Wunschkinder. Viele wurden geboren, um den allein erziehenden Müttern ein Bleiberecht zu sichern.« Als Folgen beschreibt der Sozialarbeiter: »Viele dieser Mütter sind mit der Mutterrolle überfordert. In den Familien existieren kein strukturierter Tagesablauf, keine Lebensplanung und keine Urlaubsplanung. Die Mütter haben keine Kenntnisse über Entwicklungsphasen ihrer Kinder. Sie erwarten Gehorsam von den Kindern und neigen oft zu Gewalt bei der Erziehung.«

Wichtigstes Lebensziel der Mütter sei oft das Abzahlen der Schlepperschulden. Kita-Erzieherinnen berichteten auf der Fachtagung von Kindern, deren Mütter in den alten Bundesländern arbeiten, kaum Kontakt zu den Kindern haben und die Kinder von ständig wechselnden Erwachsenen abholen lassen, die die Kinder mitunter nicht einmal kennen würden. »Für uns ist es sehr schwierig, diese Familienstrukturen zu durchschauen und im Interesse des Kindes zu handeln«, erzählt eine Erzieherin aus dem Berliner Stadtteil Friedrichshain.


Vietnamesen in Deutschland

Aktuell leben rund 85 000 vietnamesische Staatsbürger in Deutschland. Dazu kommen etwa 40 000 Vietnamesen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. ● Rund zwei Drittel der Schüler mit vietnamesischem Pass beenden ihre Schullaufbahn mit dem Abitur. Von allen Schülern schaffen das nur gut 40 Prozent. Zum Vergleich: Von den türkischstämmigen Schüler besuchen weniger als 15 Prozent ein Gymnasium.

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