Sibirische Freiheit

Dorothea Razumovsky: Verneigung gen Osten

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt in diesem Roman viele russische Wörter in lateinischer Schrift - und nicht den winzigsten Fehler darin. Vom Vorsatzpapier blickt einem überaus freundlich eine ältere Dame entgegen. Hinter ihr könnte man sich einen gedeckten Tisch vorstellen: zierliche Teekanne und eine Schale mit Gebäck. - Von Gebäck soll noch die Rede sein. Doch zurück zu dieser Frau, Jahrgang 1935, die mit »Babuljas Glück« ihren zweiten Roman veröffentlicht hat: Razumovsky - vielleicht eine Razumovskaja, dachte ich. Woher soll sie sonst diese Sicherheit im Russischen haben? Wie man sich irren kann! Die Autorin ist eine geborene Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich (was der Verlag nicht verrät, sagt Wikipedia), verheiratet mit Andreas Graf Razumovsky von Wigstein, der für die FAZ tätig war, inzwischen verwitwet. Was, mag man sich fragen, verbindet sie da mit der etwa gleichaltrigen Maria, die aus ihrem Seniorenheim verschwindet, um in eine Maschine der Aeroflot zu steigen? Die schließlich in einem sibirischen Dorf landet, das von Russlanddeutschen bewohnt wird, und dort Hasch in Plätzchen mischt?

Wenn es nicht die Bindung ans Russische ist, so ist es die Aufgeschlossenheit für alles Neue, Fremde. Ihrem Roman hat Dorothea Razumovsky ein Zitat von George Bernard Shaw vorangestellt: »Alte Leute sind gefährlich, sie haben keine Angst vor der Zukunft.« Das ist es, was diese Maria so anziehend macht: Sie agiert beherzt - also tatkräftig und liebevoll. Nach Sibirien hinterhergereist ist sie einem 16-jährigen Jungen, Wowa, der womöglich ihre Hilfe braucht. Den wiederum trieb die Liebe zu seiner Großmutter. Aber ach, er traf die Babulja nicht mehr lebend an.

»An ihr Romandebüt Letzte Liebe anschließend«, so vermerkt der Klappentext. Die Vorgeschichte von »Babuljas Glück« zu rekapitulieren, wäre eine willkommene Handreichung des Verlags für Leser gewesen, die den ersten Roman nicht kennen. Im folgenden Buch, ganz gewiss wird es eine Fortsetzung geben, sollte man sich eine Seite dafür gönnen.

Sitzt Maria also in Babuljas Hütte und entziffert deren Kochbuch, bäckt mit der Nachbarin Martha besagte Plätzchen - aber das ist nur eine Episode. Sie bemuttert Wowa und seine Freundin Lisa, besucht den Pfarrer, schließt mit einem deutschen »Entwicklungshelfer« Bekanntschaft, erlebt ein bizarres Mittagessen beim Kolchosdirektor und findet in einem Geschäftemacher einen Philosophen, der es mit ihrem verstorbenen Mann hätte aufnehmen können. Im Kindergarten staunt sie, wie ruhig sich die Kleinen beschäftigen; bei der Frau des Kolchosdirektors erfährt sie von einer gestohlenen Leninstatue und sortiert Erkennungsmarken toter deutscher Soldaten, aber die ihres Vaters ist nicht dabei. Am Schluss wird sie unsanft in ein Polizeiauto verfrachtet und nach Deutschland abgeschoben (das Visum war abgelaufen), aber auch das nimmt sie mit besagter Neugier auf.

In der schlicht erzählten Geschichte hat Dorothea Razumowsky eine Menge kluger Gedanken untergebracht. Wenn ihr bei den Vokabeln jemand geholfen haben sollte, das Verständnis der russischen Wirklichkeit ist ihr eingewachsen. Wowa »floh aus dem freien Westen und wählte die sibirische Freiheit - einfach grotesk«, so lässt sie Maria denken und dieser Freiheit nachspüren. »Die ständige Sorge um das vernünftige Ordnen der Lebenswelt, mit der wir uns im Westen herumschlagen ... bringt uns das wirklich weiter?« Was sie erlebt, ist eine »Unklarheit gigantischen Ausmaßes«, aber die Menschen scheinen mit diesem Chaos kreativ umzugehen. Sie planen nicht, reagieren spontan. Wünscht man sich nicht mitunter, neben dem Planen das auch noch zu können?

Das Buch ist eine liebevolle Verneigung gen Osten, wo man anders lebt, auch anders glaubt als in der katholischen oder der protestantischen Welt. Den orthodoxen Glauben lässt Dorothea Razumovsky Maxim erklären, einen Geschäftsmann mit schwarzer Limousine, den man von hier aus vielleicht als Mafioso bezeichnen würde. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, dass es noch eine dritte Ordnung gibt, nämlich die der mystischen Unordnung ... Wir Orthodoxen bewältigen die Wirklichkeit, indem wir uns vor dem Unergründlichen stumm verneigen und mit allen anderen Gläubigen eine geheimnisvolle, eine mystische Seeleneinheit bilden.«

Sogar die Weiten des »nitschewo« werden Maria vertraut. Denn es steht ihr eine welterfahrene Autorin zur Seite, die, selbst lange journalistisch tätig wie ihr Mann, wahrscheinlich über manches die Stirn runzelt, was heute mitunter über andere Länder in den Zeitungen steht.

Dorothea Razumovsky: Babuljas Glück. Roman. Weissbooks. 155 S., geb, 18,90 €.

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