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  • 10. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb

Ein Condor über den Anden

Barbara Stahl aus Berlin

  • Lesedauer: 3 Min.
Die 79-jährige frühere Lehrerin trifft sich allmonatlich mit Gleichgesinnten in einem Schreibklub.
Die 79-jährige frühere Lehrerin trifft sich allmonatlich mit Gleichgesinnten in einem Schreibklub.

Der Bug des Fährschiffes zerteilt die Wasseroberfläche. Weil es an Tempo zugelegt hat, erreichen kräftige Wasserspritzer auch die an Bord befindlichen Fahrgäste. Die weißhaarige Frau, die auf einer der wenigen Bänke festgeklammert sitzt, bin ich. Die Geräusche des Motors und des aufgewühlten Wassers lassen eine Verständigung kaum zu. Das kann mich nicht stören, es sind nur wenige spanische Worte bisher, die ich mir habe einprägen können. Wir wollen an das andere Ufer des Titicacasees. Dort erhebt sich nur wenige Meter vom Wasser entfernt ein heller Kirchenbau. Er ist der Copacabana gewidmet, einer in ganz Lateinamerika bekannten Schutzheiligen.

Weil ich den Gesprächen nicht folgen kann, vertiefe ich mich in den Anblick der fremden Gesichter. Gemeinsam ist ihnen die ebenmäßige braune Hautfarbe von der Tönung einer hellen Haselnuss, denke ich. Auch mein Enkel Alexander, der bei mir aufgewachsen ist, steht an der Reling, er gehört dazu und unterscheidet sich nicht. Dicht neben ihm sein Vater Omar. Wir wollen heute den »Heiligen Berg« besteigen. Von seinem Gipfel hat man einen einmaligen Blick über den Titicacasee, der dann in einer tiefen Mulde liegt und doch in über 4000 m Höhe umgeben von den zerklüfteten Felsen des Andengebirges.

Es ist noch zeitiger Vormittag, trotzdem ist der Berg an seinem Fuße bereits in Bewegung. Schwarzbraune Filzhüte, die Kopfbedeckung der Frauen, hüpfen auf und nieder, ihre buntgefärbten Röcke aus Alpakawolle in der Taille in kleine Falten gelegt, machen die Hüften ausladend breit. Ganze Familien sind hier versammelt, Bolivianer und Peruaner. Das ist nicht verwunderlich, denn die Grenze zu Peru verläuft quer durch den See.

Der Aufstieg am Hang beginnt sehr allmählich, so hat man Zeit, noch einen Blick auf die Schamanen zu werfen, die den Weg säumen. Mit schwingenden Armen im Rhythmus ihres Gesanges verteilen sie mit Wasserdampf vermischte Düfte aromatischer Essenzen. Für wenige Bolivianos kann man einen Blick in die Zukunft wagen. Ein junges Paar, wohl gerade getraut, kniet vor dem Schamanen neben mir. Ich sehe, wie der junge Mann mit seiner rechten Hand ein rotes Matchbox-Auto umklammert hält und sie ein Spielzeughäuschen aus Holz. Mit erwartungsfrohem Lächeln blicken sie zu dem Schamanen auf, der sich über sie gebeugt hat, wobei das Holzkreuz, das er um den Hals gebunden trägt, über ihren Köpfen hin und her schwankt.

Als er dann geschickt nach der Bierflasche greift und einen Teil des Inhalts nach unten schwappen lässt, ohne dabei seine würdevollen Gesten zu unterbrechen, vor allem nicht seinen Singsang, steigen erste Juchzer zu ihm auf. Insgeheim wünsche auch ich den Beiden eine glückliche Zukunft. Zwei Hände voller Konfetti beenden die Zeremonie.

Den Gipfel des Berges allerdings werde ich nicht erreichen. Eine ausgewaschene breite Felsspalte mit einem unverstellten Blick auf den See ist mir gerade recht, weiter schaffe ich es nicht. Der Druck auf die Schläfen wird unerträglich. Geschieht dir recht, was hat dich überhaupt hierher getrieben?

Natürlich weiß ich die Antwort. Es waren Alexanders bemalte Zeichenblätter, ohne die hätte es diese Reise für mich nicht gegeben. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Ihre Zahl vergrößerte sich von Jahr zu Jahr. Das dargestellte Motiv blieb immer dasselbe: hohe Gebirgsketten mit einem Vogel ganz oben, dazu die Erklärung - ein Condor über den Anden.

Es ist die Sehnsucht des Kindes nach seinem Vater. Alexander war fünf Jahre alt, als sein Vater in Berlin/Karlshorst sein Studium beendete und in seine Heimatstadt La Paz zurückkehrte.

Wann werden die Zwei den Gipfel erreicht haben? Alexander bewegt sich in der fremden Umgebung, als sei er zu Hause. Ist es eine Ankunft, die endgültig ist? Noch weiß ich es nicht.

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