Walter Kaufmann: Englisch im türkischen Mugla

  • Lesedauer: 3 Min.
Walter Kaufmann, 1924 geboren, ist einer der renommierten deutschen Autoren literarischer Reportagen.
Walter Kaufmann, 1924 geboren, ist einer der renommierten deutschen Autoren literarischer Reportagen.

Fünf Hände hoben sich spontan, ob aber wirklich alle fünf Mädchen die Antwort auf meine Frage wussten, blieb offen - denn die kleine Aysel (so kannte ich sie seit einer Stunde), die zierlichste, offenbar aufgeweckteste der Zwölfjährigen, hatte sogleich im obligaten Englisch munter losgelegt: »They are both writers. Hikmet and Kemal are fine turkish writers.«

Der Lehrer lobte sie - in der Tat, Nazim Hikmet sei ein bedeutender Dichter gewesen und Yaşar Kemal ein ebenso bedeutender Romancier, beide seien sie, »unfortunately, unfortunately«, für ihre Gesinnung verfolgt worden, sogar mit Gefängnisstrafen, was aber ihrer Verehrung im Volk keinen Abbruch getan hätte. »Thank goodness!«

Was sicher stimmte, sagte ich mir und sah vor meinem inneren Auge den Buchverkäufer auf dem Markt in der Altstadt, ein schlanker junger Mann mit wirrem Haar und dunklen Augen, der mir erfreut zugelächelt hatte, als ich von den auf dem Boden ausgebreiteten Büchern eines über Nazim Hikmet in die Hand nahm, dessen türkischer Titel sich unschwer übersetzen ließ: »Der romantische Kommunist« - ach, hätte ich allein schon des Dichterfotos auf dem Umschlag wegen das Buch gekauft, da mir doch Hikmet in jungen Jahren viel bedeutet hatte. Allein, ich war mit nichts als einem Abschiedsgruß meiner Wege gegangen, um mich im Markt auf die Suche nach dem Schuster für mein durchgelaufenes Schuhwerk zu machen, wonach ich zwischen Ständen mit handgeschmiedetem Werkzeug, Bienenhonig vom Bergbauern, Oliven, Schafskäse, Gemüse und frischem Obst herumgewandert war, bis mich der herrliche Duft frischen Brotes vor einer Bäckerei festhielt.

Just dort hatten mich zwei Schulmädchen gebeten, sie doch »please, please« zur Schule zu begleiten, damit die Klasse ihr Englisch an mir proben könne. Woher sie wüssten, dass ich Englisch spräche, fragte ich und musste erfahren, dass ich so aussehe als ob.

Kurzum, ich ließ mich auf die Entführung bis hin zu ihrer Schule ein, eine keineswegs kurze Strecke, die ich nur durchhielt, weil Aysel wieder und wieder die Hände vors Gesicht schlug und zu weinen vorgab, als ich drohte, zum Markt zurückzukehren.

Nun, so kam es, dass ich in der Klasse nach Nazim Hikmet und Yaşar Kemal fragen durfte, dessen ins Deutsche übertragene Autobiografie sich mir mancherorts als Brücke zu den Menschen erwiesen hatte - wer in der Türkei schöne Literatur liest, hatte ich erlebt, der liebt Kemal und liebt auch Hikmet.

Und hier im Lyzeum von Mugla, nördlich von Marmaris, war mir das erneut bestätigt - fünf kleine Türkinnen hatten sich zu Dichtern bekannt, die, wie ihr Lehrer dann betonte, aus der türkischen Literatur nicht wegzudenken seien: »Thank goodness!«

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