Zuerst Hitlers, dann Stalins Opfer?

Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion - das zweigeteilte Gedächtnis

  • Horst Schützler
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Schicksal deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion ist im Gedächtnis der Deutschen in Ost und West tief verwurzelt. Trotz oft geübter Zurückhaltung sogenannter Russlandheimkehrer - rund zwei Millionen kehrten bis Mitte der 50er Jahre nach Deutschland zurück - sind die mündlichen und schriftlichen Erlebnisberichte wichtige Geschichtsquelle, Bestandteil der privaten Familiensaga, Thema des öffentlichen Diskurses sowie Gegenstand und Mittel politischer und ideologischer Instrumentalisierung.

Erinnerungen werden stets aus der Perspektive der Gegenwart formuliert, was selektive Auswahl und Vergessen einschließt; Herkunft und Milieuerfahrung des Berichtenden müssen in Betracht gezogen werden. Dies verdeutlicht der vorliegende Band. Er befasst sich mit der unterschiedlichen Rückschau auf die sowjetische Kriegsgefangenschaft in beiden deutschen Staaten respektive Gesellschaften und offenbart das »zweigeteilte Gedächtnis der Deutschen« entsprechend der jeweiligen Grundhaltung zur Sowjetunion. In der frühen bundesrepublikanischen Erinnerung prägten Berufs- und Stabsoffiziere, die Elite der Heeresführung und Okkupationsverwaltung die Bilder, während Zeitzeugen aus der DDR, die zumeist als jüngere Soldaten, oft als »Kapitulationsgefangene« des Jahres 1945, in die Sowjetunion kamen, den Krieg kritisch verarbeiteten und sich vielfach positiv vom altrepublikanischen »Bilderatlas« abhoben, sei es im Bild über die Russen oder in der Sprache.

Die Herausgeberin Elke Scherstjanoi bietet generelle Überlegungen zur Forschung und Zeitzeugenbefragung zum Thema Kriegsgefangenschaft auf der Grundlage eines langfristig laufenden Befragungsprojekts. In dessen Auswertung kommt die Historikerin zu dem Schluss: »Fürs erste stellt sich das artikulierte Gegenbild zum altbundesdeutschen, öffentlich dominierten heute nicht als spezifisch ostdeutsches in Abgrenzung zu einem spezifisch westdeutschen Bild dar, sondern allgemein als ein kritisches, demokratisches, nicht antikommunistisches, eher russland- und fremdenfreundliches, kulturell-offenes Gegenbild zu einem national konservativen, fremdenfeindlichen, antikommunistischen Erinnerungskanon der Adenauerzeit.«

Nach einem Einblick in die Verarbeitung von Kriegsgefangenschaft in Literatur und Film der Weimarer Republik (Philipp Stiasny) wird der Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands e. V. (VdH) kritisch ins Visier genommen (Birgit Schwelling, Andreas von Hegel). Diese 1955 rund 500 000 Mitglieder zählende Organisiation beanspruchte in der Bundesrepublik mit Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen die antisowjetische Deutungshoheit in der Kriegsgefangenenfrage. Der Verband, der die Kriegsgefangenen als »zunächst Hitlers, dann Stalins Opfer« sah, bestimmte in der Zeit des Kalten Krieges mit großem Sendungsbewusstsein weitgehend das öffentliche und private Bewusstsein in der Bundesrepublik .

Weitere Einblicke in das »bundesdeutsche Inventar« des Kalten Krieges werden von Berthold Petzinna anhand von Berichten aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in den Jahren 1946 bis 1960 sowie von Helmut Peitsch zu Buchillustrationen zum Thema »Plenni« (russisch: Gefangene) geboten. Peter Jahn berichtet über westdeutsche Spielfilme wie »Der Arzt von Stalingrad« (1958), »Taiga« (1958), »Soweit die Füße tragen« (1959) und »Der Teufel spielte Balalaika« (1961). Zur eingeengten, die Freundschaft mit der Sowjetunion nicht unterlaufenden Darstellung des Kriegsgefangenenschicksals in der DDR-Literatur und im DEFA-Kino äußern sich Leonore Krenzlin und Ralf Schenk. Krenzlin stellt positiv fest, dass in der DDR-Literatur »das Sujet der Kriegsgefangenschaft fast untrennbar mit der Frage nach Schuld und Verantwortung des Wehrmachtsoldaten verschmolzen« war. Dies stehe auffällig im Kontrast zum »Schwur von Friedland« 1955, mit dem 600 ehemalige Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS medienwirksam bekundeten: »Vor dem deutschen Volke und den Toten der deutschen und der sowjetischen Wehrmacht schwören wir, daß wir nicht gemordet, nicht geschändet und nicht geplündert haben. Wenn wir Leid und Not über andere Menschen gebracht haben, so geschah es nach den Gesetzen des Krieges.« Dieser »Schwur« prägte das Bild von der »sauberen« Wehrmacht.

Bilder von deutschen Kriegsgefangenen in Spielfilmen der Bundesrepublik und der DDR sowie in sowjetischen Dokumentarfilmen stellt Günter Agde vor. Deren Darstellung in heutigen russischen Spielfilmen skizziert Elena Müller. Dieser Band ist mit seinen zahlreichen emotional beeindruckenden Abbildungen im doppelten Sinn ein lesens- und betrachtenswertes BILDER-Buch. Der Herausgeberin ist zuzustimmen: »Ein derart thematisch fixierter, deutsch-deutsch vergleichender Blick wurde bislang noch auf keinen Aspekt der deutschen Nachkriegs-Vergangenheitsarbeit gerichtet.« Bemerkenswert ist vor allem, dass hier die DDR im Vergleich nicht schlecht abschneidet. Das Nachdenken darüber lohnt - auch hinsichtlich der Nutzung geschichtlicher Erfahrungen für die Gestaltung heutiger deutsch-russischer Beziehungen.

Elke Scherstjanoi (Hg.): Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen. Oldenbourg Verlag, München. 264 S., br., 44,80 €

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