Antidepressivum und Kraftquell

Politische Interventionen: Oskar Negt begründet, warum nur noch Utopien realistisch sind

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 5 Min.

Das seit einigen Jahrhunderten in den europäischen Sprachen geläufige Wort »Utopie« ist mit »Kein Ort. Nirgends« unzureichend übersetzt. Jedenfalls für Oscar Negt, einem der umtriebigsten, produktivsten Sozialwissenschaftler deutscher Gegenwart.

Seiner sich im Bezugsrahmen der Frankfurter Schule (allerdings vorwärts!) entwickelnden und an einem - wie er es nennt - »bäuerlichen Materialismus« orientierenden Denkweise entspricht es, unter Utopie die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit angelegten Möglichkeiten des Fortschritts zu begreifen. Solche Möglichkeiten sich und anderen bewusst zu machen, sei der eigentliche Sinn gesellschaftswissenschaftlicher Arbeit. Insofern sei utopisches Denken ein Erkenntnisreservoir eigener Art, ein Antidepressivum, eine Kraftquelle für systemkritische Emanzipationsbewegungen. Um eine Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftssystem zu erkämpfen, bedürfe es des Mutes zur Utopie. (Ähnlich hatten es die Gründer der ab 1991 in mehr als 200 Nummern in Berlin verlegten und 2008 eingestellten Zeitschrift »Utopie kreativ« gesehen.)

Die Schultern, auf denen der Utopiker Negt sich stellt, sind nicht die großen Utopiker der Antike oder der Aufklärung. Die meisten - Campanella, Winstanley, Morelly etwa - werden nicht einmal erwähnt. Hingegen werden von ihm als Gewährsmänner von den »Alten« immer wieder Immanuel Kant (dessen Begriff der Würde des Menschen für ihn von zentraler Bedeutung ist) herangezogen und vor allem Karl Marx und Friedrich Engels, deren Frühschriften er vor zehn Jahren wieder zu publizieren half. Von den Neueren sind es Ernst Bloch, der »deutsche Philosoph der Oktoberrevolution«, dessen Grabrede er hielt, sodann Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, auf deren Marxismus er nichts kommen lässt, sowie (abgeschwächt) Jürgen Habermas, dem Negt langjährig assistierte und bei dem er promovierte.

Natürlich weiß Negt, dass von Dogmatikern aller Sorten Marx-Zitate zur Legitimierung unmarxistischer Theorien und Praxis missbraucht wurden. Auch ist ihm nicht fremd, dass von denen, die mit sich und der Gesellschaft, so wie sie ist, zufrieden sind, »Utopie« als eine veraltete Metapher verabscheut wird. Negt aber scheut nicht davor zurück, einen zwei Seiten langen Marx-Text seiner eigenen Gedankenführung mit der Begründung einzufügen, dass er keine Argumentation kenne, »die in ähnlich prägnanter Zuspitzung die innere Dynamik des kapitalistischen Systems bis zum Punkt des Aufsprengens« formuliert habe. Und an anderer Stelle liest man: Nirgends ist der Aufbruch in den Weltmarkt, der alle Nationen zwang, sich die Produktionsweise der Bourgeoisie anzueignen, besser beschrieben als im »Kommunistischen Manifest«. Marx habe recht: die alles beherrschende Macht der modernen Gesellschaft ist das Kapital. Sogar Luthers brutale Sätze gegen die Bauernkrieger werden von ihm, statt aus des Reformators, aus Engels' Schriften zitiert.

Auch wenn Negt jeglichem Extremismus, selbst dem bloß verbalen, abhold ist - sein Linksdrall ist unüberlesbar. Und er wird material- und gedankenreich vorgetragen. Die Beiträge beruhen auf soziologische Analysen, denn von bloß moralischen Appellen hält Negt so wenig wie von der Arroganz ohnmächtiger, aber prinzipientreuer Dogmatiker. Erst recht natürlich nichts von den Realpolitikern, denn genau diese seien es, die uns an den Rand des Abgrunds gebracht hätten. Die opportunistisch gewendeten, ehemaligen Linken, die sich als hilfswillige Truppe an der Enteignung emanzipatorischer Begriffe beteiligen, sind ihm ebenso zuwider wie die Scharlatanereien der Fernsehphilosophen, samt den vermeintlichen Tiefsinn nachplappernde Moderatoren.

Es entspricht Negts Verantwortungsbedürfnis, sich dem »Missbrauch der Eigentumsmacht«, dem »Wildwuchs menschenverachtender Geldbewegungen«, dem seit 1990 spürbaren »Siegesrausch des Kapitalismus« entgegenzustellen. Auch wenn er das Privateigentum an den Produktionsmitteln nirgends als Ganzes in Frage stellt - mit einer letztlich doch bloß verharmlosenden »Zivilisierung« oder »Domestizierung« der Kapitalherrschaft findet er sich nicht ab. Wo etwa Arbeitende zu bloßen Kostenfaktoren betriebswirtschaftlicher Rationalisierung schrumpfen, sei Widerstand erforderlich. Herrschaftsverhältnisse, einschließlich der sich aus ihnen ergebenden Privilegienstrukturen, lösen sich nämlich nicht von alleine auf.

Es ist die Sicht »von unten«, die Negt angeboren zu sein scheint und für die er wirbt. Er artikuliert die Enteignungserfahrungen, speziell der Vereinigungsverlierer, begehrt gegen den monopolwirtschaftlich gesteuerten, staatlich exekutierten Privatisierungswahn auf, charakterisiert die Arbeitslosigkeit als einen Gewaltakt (!) der Herrschenden gegen die Betroffenen und einen gezielten Anschlag auf die geistige und körperliche Integrität sowie die Würde des Menschen. Aus vermutlich biografischen Gründen fällt es ihm schwer, dem Führungspersonal der SPD vorzuwerfen, dass es infolge seiner fehlenden Distanz zu den wirklichen Machthabern in der Gesellschaft die Arbeitslosigkeit hauptsächlich als Problem der Arbeitslosen und nicht des kapitalgesteuerten Arbeitsmarktes, also der Eigentumsverhältnisse, betrachtet. Der Druck von rechts habe wohl die politische Vernunft jener einst gediegenen sozialdemokratischen Aufklärer verdunkelt, die nun mit antidemokratischen Elitetheorien liebäugeln, statt sich um eine neue Kapitalismuskritik zu kümmern. Diese müsse indes auf der Tagesordnung dieser Partei stehen, wenn dem verbreiteten Zweifel an ihrer Gerechtigkeitskompetenz entgegengetreten werden soll.

Für Negt sind »soziale Gerechtigkeit« und »demokratischer Sozialismus« die authentischen Begriffe der Linken. Und der in einer Gesellschaft vorhandene objektive Reichtum ist das Kriterium, mit dessen Hilfe entschieden werden kann, wer in ihr gerecht und wer in ihr ungerecht behandelt wird. Von daher ist für ihn die Polarisierungskampagne der Meinungsmacher - in Gestalt einer rechtfertigenden Entgegensetzung von Reich und Arm, von politischer Klasse und Ruhiggestellten, von Hoch- und Normalbegabten, von Exzellenzuniversitäten und Normalhochschulen - ebenso unmoralisch wie es ungerecht sei, die sozialen Rechte den politischen Rechten unterzuordnen. Eine Gesellschaft, in der die Reihenfolge »Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit« zugleich als deren Rangfolge festgeschrieben ist, zementiert die sichere Unfreiheit für die Habenichtse.

Zwei kritische Bemerkungen seien angefügt. Sich damit zu begnügen, die DDR als ein autoritäres Herrschaftsgebilde zu charakterisieren, ohne auf dessen Entstehungsbedingungen und soziale Konsequenzen einzugehen, widerspricht Negts sonstigem Argumentationsniveau und Differenzierungsvermögen. Und es verwundert, dass hier die weltkriegerischen Konsequenzen einer Politik ausgeblendet sind, mit der die Führungsmacht des internationalen Kapitals, samt ihrer willigen Vasallen, die Gegenwart blutiger gemacht hat, als sie vor 20 Jahren war. Zumal Negts Utopie meint: Kampf um die Vereinbarkeit von sozialer Gerechtigkeit, politischer Demokratie, individueller Emanzipation und der Integrität von Leben und Natur auf unserer Erde.

Oskar Negt: Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Steidl Verlag, Göttingen. 321 S., geb., 34 €.

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