Europäische Standards

Jürgen Reents über den NSU-Prozess und den Konflikt um die Presseplätze

  • Lesedauer: 3 Min.

Gewiss, in der Sache hat das Folgende keine Parallele zum NSU-Prozess und dem Konflikt um die Presseplätze. Es geht hier allein darum, welche Kritik und welche Einmischung sich wer gegenüber einem Gericht erlaubt. Es geht um Scheinheiligkeit und Überheblichkeit.

Gehen wir zurück ins Jahr 2007. Damals saß Marco W. aus Uelzen in der Türkei in Untersuchungshaft. Er stand unter Verdacht, ein 13-jähriges englisches Mädchen während des Urlaubs sexuell missbraucht zu haben. Seitens deutscher Politiker und Medien schlug ihm viel Mitgefühl entgegen. Außenminister Steinmeier verlangte von seinem türkischen Kollegen, Marco W. freizulassen; die Vorwürfe würden in Deutschland geprüft werden.

Der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Gehb, sah einen Beweis, dass die Türkei »nicht reif« sei für einen EU-Beitritt. Bis in die Spitzen der EU machte die deutsche Politik ihren Einfluss geltend, um die türkische Regierung zu etwas zu drängen, das »Anpassung an europäische Standards« genannt wurde. Und im Kern doch meinte: Die türkische Regierung solle der türkischen Gerichtsbarkeit gefälligst eine Anweisung erteilen. Sie tat es schließlich: Marco W. kehrte in die Bundesrepublik zurück, der Prozess in Antalya fand ohne ihn statt. Das Gericht sprach ihn am Ende schuldig. In Deutschland wurden die Ermittlungen mangels Tatverdachts eingestellt.

Europäische Standards, nun lauten sie umgekehrt. Der Deutsche Richterbund ist verärgert über »populistische Zwischenrufe« an das Münchener Gericht, sie seien »nicht mehr hinnehmbar«. CSU-Chef Seehofer empört sich über die Einmischung in die Unabhängigkeit des Gerichts, das sei Verfassungsbruch. Patrick Kurth von der FDP in Thüringen donnert: »Die Gewaltenteilung wird in diesem Land verteidigt.« Und Ruprecht Polenz von der CDU, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, kanzelt türkische Politiker ab, sie sollten aufhören, am »Rad der Kritik« zu drehen. Was ist es auch für ein unbilliges Verlangen türkischer Medien und türkischer Parlamentarier, einen Prozess beobachten zu wollen, bei dem es – neben weiteren – um acht Morde deutscher Neonazis an türkischen Migranten geht!

Man muss gerechterweise anfügen: Ein großer Teil der Politiker, bis hinein in die Bundesregierung, äußert inzwischen Verständnis für die Kritik am bayerischen Gericht. Häufig jedoch mit einem Beiton, der wiederum nur mit deutschem Nutzen, nichts mit Prinzipien zu tun hat – sofern sich um einen »Ansehensverlust«·Deutschlands gesorgt wird. Der Vorsitzende Münchener Richter Manfred Götzl räumt nun zwar ein, dass einige Medien später als andere über die Akkreditierung informiert wurden, jedoch sei es wie es sei. Stellt er sich stur, weil er den Prozess gar nicht leiten, sondern sich nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichts auswechseln lassen will?

Der türkischen Justiz geht nicht der Ruf voraus, sie sei liberal. Sie ist im Gegenteil berüchtigt für drakonische Strafen gegen politische Oppositionelle. Doch richtig ist auch: Internationale Beobachter erfahren dort nicht solche Hindernisse wie in Bayern. Bei einem Prozess im letzten September in Istanbul – der Autor kann es bezeugen – wurde einer Pressedelegation aus Deutschland ein unkomplizierter Zugang zum Gerichtssaal ermöglicht, trotz sehr kurzfristiger Anmeldung und eines außerordentlichen Zuschauerandrangs. Bei manchen europäischen Standards hat eher Deutschland kräftigen Nachholbedarf.

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