Schuld ist der Osten

Zeitschrift »Cicero«: Nazi-Netzwerk NSU ist eine »linke Legende«

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Dr. rer. pol. Wolfgang Bok, der für diverse Lokalblätter und die »Wirtschaftswoche« tätig ist, und zwar laut Selbstauskunft für die »Kernthemen« »Politik und Wirtschaft in Baden-Württemberg«, bietet auch Reklamedienstleistungen an (»kreative Kommunikations- und Medienstrategien«). Das ist kein Wunder, hat sich der ausgewiesene Experte für das »Kernthema« provinzieller Wohlfühljournalismus (zwölf Jahre Chefredaktion bei der »Heilbronner Stimme«) seiner Homepage zufolge doch auch länger als Werbeonkel hervorgetan: »An die journalistische Karriere schlossen sich Jahre bei der renommierten Kommunikations- und Werbeagentur Scholz & Friends, Berlin.« Da wächst zusammen, was zusammengehört: die Beschäftigung mit Top-Themen wie der Eröffnung des neuen Designbadewannen-Studios in der Innenstadt oder dem Vereinsjubiläum der Freiwilligen Feuerwehr und der feiste Stolz auf die eigene Provinzialität (»Wir können alles. Außer Hochdeutsch«).

Bok, der sich anscheinend auch ums »Kernthema« Nazis kümmert, weiß auch mehr als wir alle. Er weiß beispielsweise, dass es eine Neonazi-Terrororganisation namens NSU nie gegeben hat und auch keine Verfassungsschützer, die mit ihr paktiert haben könnten. Was es dagegen gegeben hat, sind »drei durchgeknallte Ossis« und eine »Legende vom großen braunen Netzwerk«, an dem »die Linkspartei eifrig strickt«.

Herr Bok, einer, der einen Neonazi vermutlich noch nicht einmal erkennen würde, wenn man ihm einen in seine Wohnzimmerecke stellen würde, hat herausbekommen, worum es beim NSU-Prozess in Wirklichkeit geht: »Auf der Anlagebank (sic!) sitzt auch Deutschland. Und damit letztlich wir alle. Also auch Sie - und ich.« »Deutschland soll vorgeführt werden«, und zwar »als Hort, wo neonazistische Umtriebe unter den Augen der Obrigkeit gedeihen können«.

Ja, ist das denn die Möglichkeit? Deutschland, seit je bekannt für seine Berge, Täler, blühenden Gänseblümchen, Anlagebanken, das Käthchen von Heilbronn, den guten schwäbischen Trollingerwein sowie für seine weltweit erfolgreichen Philosophen (Heidegger), Literaturpreisträger (Grass) und Krimiserien (»Derrick«) und die beste Autobahn der Welt, ein verkapptes Naziland? Unmöglich!

Bok, der sich wohl wenig begeistert zeigen würde, wenn man ihn einen »durchgeknallten Wessi« nennen würde, und der vermutlich eher als Fachmann auf dem Gebiet der politischen Wissenschaft bezeichnet werden muss, hat per Blitzrecherche präzise ermittelt, wer die Schuld trägt am jahrelangen Morden militanter Neonazis: Linke Jugendliche und kommunistische Zahnärzte. Wie könnte es auch anders sein? »Beate Zschäpe hat ihren mörderischen Irrweg in einer linken Jenaer Gruppe namens ›Zecke‹ begonnen. Sie ist ein Kind der DDR und deren Krippenerziehung, in die sie ihre Mutter, eine Zahnärztin, bereits ab der zwölften Woche gesteckt hat.« Linke Zecke! DDR! In die Krippe gesteckt! Man hätte es vorher wissen können, wenn man nur Wolfgang Bok, den knallharten investigativen Rechercheur, der den Dingen auf den Grund geht, unseren Geschichtsprofessor ehrenhalber, zurate gezogen hätte: Weil Zschäpe bereits als hilfloses Kleinkind im Krippen-Gulag per Bananenentzug und Zwangsbespaßung gefoltert wurde, ist es kein Wunder, dass sie als Erwachsene das Ausländertotschlagen befürwortet. Sowas kommt von sowas.

Eine Beweisführung, wie sie scharfsinniger kaum sein könnte. Schließlich legt Bok ausweislich seiner eigenen Homepage »großen Wert auf analytischen Tiefgang«, wenn er, so wie hier, vielerlei verschiedene Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge auf Papier malt. Am Ende könnte sich schlimmstenfalls ein schrecklicher Verdacht bestätigen: Hätte es keine Kinderkrippen in der DDR gegeben, wäre uns vielleicht gar am Ende der Nationalsozialismus erspart geblieben. Vielleicht kann Bok in dieser Sache mal ein bisschen nachrecherchieren.

Stattdessen aber wiederholt er das hundertfach widerlegte geschichtsrevisionistische Mantra von den Antifaschisten, die schlimmer als die Nazis seien: »Rechts- und Linksextremisten sind sich ähnlicher, als sie wahrhaben wollen«, schreibt Bok. »Auf das Konto politisch rechts motivierter Gewalt gingen 2012 insgesamt sechs ›versuchte Tötungen‹, Linksextremisten werden acht beabsichtigte Tötungsdelikte zur Last gelegt.«

Es gab eine Zeit, in der man solcherart Mischung aus ahnungslosem Extremismusgequatsche und Textbausteinen aus dem Fundus des Bundes der Vertriebenen nur in einschlägigen Publikationen wie der »Jungen Freiheit« und NPD-Propagandablättern lesen konnte. Heute liest man solches in der Angeber-Illustrierten »Cicero«, die mit dem US-amerikanischen Magazin »New Yorker«, dem sie nachzueifern vorgibt, ungefähr so viel zu tun hat wie eine vertrocknete Knäckebrotscheibe mit der Auslage eines Pariser Delikatessengeschäfts.

»Journalistisch tritt Wolfgang Bok vor allem als Kolumnist und Autor in Erscheinung. Hier zeichnet ihn der Mut zur klaren Meinung aus, die auch gerne vom üblichen Mainstream abweicht«, ist auf seiner Homepage zu lesen. Anders gesagt: Bei ihm, dem ausgebufften Werbefuzzi, haben wir es mit einer Art Bonsai-Ausgabe von Martenstein, Fleischhauer & Co. zu tun, der Sorte analytischem Tiefgänger also, die sich gern als tapferen Tabubrecher inszeniert, während sie Journalistendeutsch, Antikommunismus, ressentimentgeladene Altherrenstammtischmeinung und regierungsoffizielle Propaganda so gründlich vermischt, dass am Ende das dabei herauskommt, was der deutschnationale Kleinbürger gerne hört: das immergleiche, seit Jahrzehnten ertönende Gejammer vom Deutschen als Opfer. Davon, dass man vom Krieg und den Nazis gefälligst nichts mehr hören wolle (»Selbstkasteiung«, »kollektiv schuldig«, »Büßerhemd«) und dass die Kommunisten schuld seien an allem Schlimmen in der Welt (»Extremismus«, Nazis, Ostzone).

»In der DDR hätte man Wolfgang Bok niemals schreiben lassen«, meint der »Titanic«-Chefredakteur Leo Fischer und zieht daraus den Schluss: »So schlecht kann dieses Land nicht gewesen sein.«

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