Glanzvolle Zeiten und ein jäher Absturz

Ein stolzes Jubiläum? - Kritischer Rückblick auf eine traditionsreiche Partei

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 6 Min.

Leipzig, 23. Mai 1863: Einige Hundert Arbeiter bejubeln im »Pantheon« in der Dresdner Straße Ferdinand Lassalle. Der Sohn eines jüdischen Seidenhändlers aus Breslau ist soeben von den Delegierten aus elf deutschen Städten zum Präsidenten des an diesem Tag ins Leben gerufenen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) gewählt worden.

Mit der dadurch vollzogenen Befreiung aus der Vormundschaft des liberalen Bürgertums war zwar ein wichtiger Schritt zur Herausbildung einer selbstständigen Arbeiterbewegung getan. Doch der von Hegel beeinflusste und selbstherrlich agierende ADAV-Präsident blieb in der Illusion befangen, allein mit Hilfe des Bismarckstaates und des allgemeinen Wahlrechts die Interessen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen erfüllen zu können. Dem widersprach ein Teil der eher klassenkämpferisch eingestellten Gründungsväter des ADAV, die aus dem Handwerker- und Proletariermilieu kamen und sich der Unterstützung von Karl Marx und Friedrich Engels erfreuten. Hierin lag denn auch ein Keim für baldige Spaltungstendenzen, die sich bis in die Gegenwart fortsetzten.

Seit Eduard Bernstein feiern die führenden Köpfe der deutschen Sozialdemokratie und deren Historiker Lassalles ADAV als Geburtsstunde der SPD. So auch in diesem Jahr, mit einer Ausnahme: Die Grande Dame der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung Helga Grebing hat zutreffende und wohlerwogene Einwände. Lassalle verkörpere nur eine »radikal-demokratische Variante des linken Liberalismus« und habe zudem eine zu starke »etatistische Prägung« in die Arbeiterbewegung eingebracht. Sie besteht darauf, die Arbeiterverbrüderung der Revolution von 1848 und den Bund der Kommunisten, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, das Gothaer und das Erfurter Programm ebenbürtig zu würdigen. Neben der Reformpartei also auch die Kampfpartei SPD, »wenn auch mit etwas Zurückhaltung«. Wenn-gleich man ihrer Behauptung, die Linkspartei habe »keine lange und bedeutsame Geschichte, und sie hat auch keine Tradition, bestenfalls eine geborgte, um nicht zu sagen eine geklaute«, nicht zustimmen kann, richtig ist ihre Feststellung, dass vieles von dem, was vor 150 Jahren erwartet und gefordert worden war, »immer noch nicht eingelöst ist«.

Anderthalb Jahrhunderte wären ein Anlass, Bilanz zu ziehen, warum das so ist, welche von den ursprünglichen Zielen erreicht wurden und welche nicht. Das geht nicht ohne Beachtung der Leistungen der anderen breiten Strömung der Arbeiterbewegung wie auch der Folgen des beiderseits geführten »Bruderkampfes«.

Schon Goethe wusste, dass man Geschichte von Zeit zu Zeit umschreiben müsse, nicht »weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf neue Weise überschauen und beurteilen lässt«. Was könnte uns, als »Genossen einer fortschreitenden Zeit«, besonders interessieren? Vielleicht, was vier SPD-Regierungen in den letzten Jahrzehnten geleistet haben.

1972 zog die SPD in den Wahlkampf mit dem Plakat: »Deutsche! Wir können stolz sein auf unser Land.« Wie wahr! Die bleierne Nachkriegszeit war mit der Ablösung des Altnazis Georg Kiesinger als Kanzler durch den Emigranten und Sozialdemokraten Willy Brandt sichtbar zu Ende gegangen. Die Überwindung der offensichtlichsten ideologischen und personellen Lasten des Faschismus sowie die Sicherung eines bürgerlich-demokratischen Verfassungsstaates trotz fortbestehender Herrschaft des Monopol- und Bankkapitals waren ein Verdienst der SPD - erleichtert freilich durch den im Osten von Kommunisten und Sozialdemokraten geschaffenen Staat, in dem die Träger von Faschismus und Krieg sowie die Macht des Kapitals gestürzt worden waren. Die 60er bis Mitte 70er Jahre mit Reformen und Massenwohlstand stimmten hoffnungsvoll. Und Brandt erhielt für seine Neue Ostpolitik den Friedensnobelpreis.

Die nächste Wirtschaftskrise und die maßgebliche Beteiligung des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt am NATO-Doppelbeschluss beendeten jedoch schon 1982 das so glanzvoll begonnene »sozialdemokratische Jahrzehnt«. Die Bürgerblockparteien kehrten mit Helmut Kohl als neuen Kanzler an die Macht zurück. Indes: Dass die europäischen Staaten und Völker 1990 die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates ohne nennenswerte Widerstände akzeptierten, war auch dem Dialog von SPD und SED und den neuen deutsch-deutschen Beziehungen zu danken. Das wäre ein Grund zu »Stolz« - ein Wort, das Konjunktur feiert in den Jubiläumsschriften und Reden der SPD-Granden dieser Tage.

In dem vom Parteivorsitzenden Siegmar Gabriel herausgegebenen »Politischen Lesebuch« eröffnet Altkanzler Gerhard Schröder den Reigen: »Wir können mit Stolz auf unsere Geschichte, auch auf unsere Regierungszeit auf Bundesebene zwischen 1998 und 2009 zurückblicken.« Auch der saarländische Landesvorsitzende Heiko Maaß ist stolz: »Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren zu allen Zeiten Vorkämpfer der Demokratie: am Anfang unserer Parteigeschichte, in Weimar, in der Bundesrepublik nicht zuletzt mit Willy Brandts ›Mehr Demokratie wagen‹ und als es darum ging, das marode DDR-System in einer friedlichen Revolution zu besiegen.« Zum »Stolz« gesellt sich die Vereinnahmung einer zur »Revolution« hochgestapelten Wende.

Gewiss, die von ostdeutschen Pfarrern gegründete Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP) stellte als einzige der neuen Gruppierungen des Herbstes 1989 sofort die »Systemfrage«. Dagegen traten große Teile der Bürgerbewegung und Reformkräfte innerhalb der SED für einen demokratischen Sozialismus ein. Dies scheiterte nicht zuletzt an der Verweigerung der SPD (genötigt von der Ost-SDP), ein Bündnis mit den Reformkräften der SED/PDS zu suchen und für eine demokratische Neugründung des alsbald wiedervereinigten Deutschlands zu kämpfen. Die SPD erwies sich als völlig unwillig, eine offensive Politik entsprechend ihrem Berliner Programm (1989) mit Blick auf den »entkapitalisierten Osten« einzuschlagen und ließ ihren Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, der sich nationalistischem Taumel verweigerte, im Stich. Eine antitotalitäre »Revolution« zum neuen Gründungsmythos des vereinten Deutschland zu stilisieren, mag verlockend für jene sein, die die Rückkehr der Deutschen Bank, enteigneter Konzerne und Großgrundbesitzer in Ostdeutschland vergessen machen wollen. Aber das nachträglich auch noch als eine sozialdemokratische Revolution zu adeln, geht zu weit.

All das trübt den Stolz des Altkanzlers Schröder nicht. Doch seine Agenda-Politik liegt den Spitzen der Jubilarin schwer im Magen. Man könnte von einem Paradoxon sprechen: Durch Schröders neoliberale Umformung der Partei wurde deren Identität schwerst beschädigt. Andererseits schuf sie Voraussetzungen für die Wiederbelebung einer kämpferischen, traditionellen Sozialdemokratie - allerdings nicht im Rahmen dieser Partei. Die von der rot-grünen Koalition unter Schröder vollzogene »Wende« war mehr als nur ein Politikwechsel. Sie stellt für die SPD einen Identitätsbruch dar, der schwer zu korrigieren ist. Die Fortführung dieses Kurses aber wäre selbstmörderisch. Sich ehrlich und offen davon zu distanzieren, fehlt der Partei bis dato nicht nur die Courage, sondern - wie im Jubiläumsheft des »Vorwärts« der Sozialphilosoph Oskar Negt schreibt - »eine Gesellschaftstheorie, die Ortsbestimmung der Politik ermöglicht; es fehlt das überschreitende Denken. Der totale Utopieverlust, der auch die Idee des demokratischen Sozialismus erfasst hat, hinterlässt selbst bei gewonnenen Wahlen einen bitteren Nachgeschmack.«

Aus der einst radikal-sozialistischen Arbeiterpartei und späteren Partei eines demokratischen Sozialismus mit das System überwindenden Reformprogrammen wurde ein systemtreuer Wahlverein. Die ehemals stärkste Mitgliederpartei ist hinter die Parteien des Bürgerblocks zurückgefallen. Sie hat kein mobilisierendes Programm und ist ohne charismatische Führungsfigur. Sie tendiert zu beliebigen Regierungskoalitionen und geht völlig unzureichend auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein, auf die Krisen des Wirtschafts- und Finanzsystems, des Sozialstaats und der Demokratie. Sie hat weder ein zukunftsweisendes Konzept zur demokratischen und sozialen Entwicklung der EU noch gegen die Militarisierung der Außenpolitik. Das seit Lassalle, Bernstein und vielen anderen in unzähligen Büchern und Programmen ausgestaltete Gedankengebäude eines aus Reformen hervorgehenden »demokratischen Sozialismus« ist zusammengebrochen und als Ziel klammheimlich entsorgt. Theoretisch blamiert und praktisch gescheitert - Gründe, um stolz zu sein, sehen anders aus.

Unser Autor, bis 1992 Ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, forscht vor allem zur deutschen Sozialdemokratie und ist Referent des Marxistischen Forums der LINKEN.

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