Ein Augenblick des Frühlings

Die Kafka-Konferenz vor 50 Jahren im tschechischen Liblice - Weit mehr als ein Treffen von Germanisten und Literaten

  • Hartmut Michael Kühn
  • Lesedauer: 4 Min.

»Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«
Franz Kafka, »Der Prozess«

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Der Zweite Weltkrieg war keine drei Jahre vorbei, da brach der jugoslawische Partei- und Staatschef Tito mit Stalin. Es waren achtzehn Jahre vergangen, da wurden die Gegensätze zwischen der Sowjetunion und China derart öffentlich, dass sie auf die kommunistischen Parteien weltweit übergriffen und zu lokalen kriegerischen Auseinandersetzungen nicht nur an der sowjetisch-chinesischen Grenze führten. In eben jenem Jahr 1963, als es zum endgültigen Bruch zwischen Moskau und Peking gekommen war, fand eine Konferenz statt, die auf den ersten Blick als ein rein fachwissenschaftliches Ereignis erschien, aber doch weit mehr war. Ein von den Sowjetideologen und ihren Gefolgsleuten in den osteuropäischen Staaten zur »Unperson« verdammter Schriftsteller sollte anlässlich seines 80. Geburtstages posthum gewürdigt werden. Wie sich bald herausstellen sollte, begann damit die Erosion des monolithen Marxismus, es kam zur erneuten Spaltung der kommunistischen Weltbewegung. Das freilich konnte keiner der Konferenzteilnehmer ahnen, die der Einladung des tschechoslowakische Germanistikprofessors Eduard Goldstücker gefolgt waren und am 27. Mai in Liblice eintrafen.

Franz Kafka gilt heute als einer der größten Vertreter der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts; sein Name wird in einem Atemzug mit Joyce, Musil, Proust genannt. Sein Mittel war die Parabel, sein Thema die Entfremdung des Menschen. Gastgeber Goldstücker vermerkte im Vorwort zum anschließend veröffentlichten Protokollband, an der Konferenz hätten vorwiegend Literaturwissenschaftler teilgenommen, »die auf dem Boden der marxistischen Weltanschauung stehen«. Sie hätten aber auch den Beweis dafür erbracht, dass der Marxismus sich unwiderruflich aufgespalten habe: Marxisten meinten, auch wenn sie dieselben Begriffe benutzten, nicht mehr das gleiche.

Im Zentrum der zweitägigen Konferenz standen Begriffe wie Entfremdung, Dekadenz, Existenzialismus und Realismus. Zum ersten Mal wurde auf einer internationalen Tagung, die von Marxisten ausgerichtet wurde, offenbar, dass der Marxismus mehrere Lesarten zuließ. Es stelle sich heraus, dass, wer »Kafka« sagte, ungleich mehr im Sinn hatte.

Der österreichische Schriftsteller Ernst Fischer reihte Kafka in die Große Dichtung ein, die »immer Sinnbild in all ihrer Vieldeutigkeit« sei und »nicht unvermittelt aus dem Kosmos« komme, »sondern aus einer Gesellschaft der Besitzenden und Besitzlosen, der Herren und der Knechte«: »So stupid es wäre, Dichtung nur aus sozialen Konstellationen abzuleiten, sie nur als ›Widerspiegelung‹ gesellschaftlicher Zustände anzuerkennen, so dogmatisch ist es, sie nur als Ergebnis autonomer Phantasie, als von jeder sozialen Umwelt absehender Innenschau zu charakterisieren.« Zu einem gegenteiligen Schluss kam der (im vergangenen Jahr verstorbene) Germanist Ernst Schumacher, der 1962 aus der Bundesrepublik in die DDR übergesiedelt war: »Ausgehend von der Entfremdung des Menschen, die Kafka wie kaum ein anderer Zeitgenosse empfunden und literarisch zu gestalten verstanden hat, wird gefolgert, dass diese Entfremdung gleichsam eine ewige Kategorie des Menschlichen sei, dass das Scheitern des Menschen unvermeidlich sei und heroisch getragen werden müsse, wie es die literarischen Gestalten Kafkas tun. Ich meine, dass diese ›Verphilosophierung‹ Kafkas für einen Marxisten unzulässig ist. Sie ist unhistorisch und undialektisch.« Damit entsprach er der von Moskau vorgegebenen Sicht.

Die von Kafka wiedergegebene Empfindung der Entfremdung wurde von der stalinistischen Literaturkritik als nicht »realistisch« und dem sozialistischen Realismus nicht entsprechend abgelehnt. Entfremdung durfte es im Kommunismus nicht geben. Und so wurde denn auch die auf der Konferenz vom französischen Schriftsteller und Philosophen Roger Garaudy geforderte Öffnung des eng gefassten »sozialistischen Realismus« zu einem »Realismus ohne Ufer« als Versuch gewertet, bürgerliche Ideologie in den Marxismus zu importieren. Diese Engstirnigkeit resultierte wohl daraus, dass Kafka gerade auch viele »Entstellungen« und »Deformationen« des Sozialismus prophetisch in seinen allegorischen Bildern beschrieben hat.

Die Konferenz in Liblice markierte das Ende einer kulturellen Isolation und ermöglichte die Wiederentdeckung eines fast vergessenen Oeuvres. Es folgten Kafka-Editionen in der DDR und in der Sowjetunion. Es wurde dann aber auch wieder der Ausschließlichkeitsanspruch erhoben und zur ideologischen Konfrontation zurückgekehrt. Der Einmarsch am 21. August 1968 in Prag und die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings waren Menetekel für den Niedergang des »realen Sozialismus«. Doch nicht nur diesen hat Kafka quasi schon antizipiert. Seine Empfindungen sind die unsrigen, in einer Gesellschaft, die mehr und mehr die Maske der »sozialen« Marktwirtschaft fallen lässt und Schritt für Schritt die Demokratie entleert.

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