Rettende Kritik

Wolfgang F. Haug bietet eine neue Leseeinführung in das »Kapital« von Karl Marx

  • Klaus Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

Warum lesen heute wieder mehr Menschen »Das Kapital« von Karl Marx? Ist nach dem Scheitern des Staatssozialismus dessen Theorie nicht obsolet? Wolfgang F. Haug nennt es Kinderglaube, von einem Autor des 19. Jahrhunderts, sei er noch so genial, Anweisungen für eine nachkapitalistische Gesellschaftsgestaltung zu erhoffen. Aber ...

»Das Kriterium, nach dem die Kritik der politischen Ökonomie beurteilt und weitergeführt werden muss, ist die Analyse des je aktuellen Kapitalismus«, bemerkt Haug. Dessen große Krise wirft alte Fragen neu auf: Warum nehmen Reichtum und Armut zu? Warum zerstört der Kapitalismus soziale und naturale Lebensgrundlagen? »Das Kapital« ist aktuell, weil es diese Fragen beantwortet. Marx erklärt in seinem Hauptwerk, wie die kapitalistische Welt funktioniert. Unübertroffen, unschlagbar. Doch die Lektüre des »Kapitals« ist beschwerlich. Haug will eine Handreichung zu dessen Studium bieten, um Irrungen zu vermeiden.

Der französische Philosoph Louis Althusser (1918-1990) meinte dereinst, die ersten drei Kapitel des »Kapitals« seien so schwierig, dass der Leser lieber mit dem vierten über »Die Verwandlung von Geld in Kapital« beginnen solle. Haug widerspricht: »Der Anfang darf nicht übersprungen werden. Wenn jemand die Form des Geldes nicht ableiten kann, dann sieht er bei der ›Verwandlung von Geld in Kapital‹ nichts als böhmische Dörfer.«

Die Autoren der Neuen Marx-Lektüre behaupten, sie seien die ersten gewesen, die Marx verstehen würden. Sie werfen dem einstigen parteigelenkten Marxismus-Leninismus vor, die theoretische Hinterlassenschaft von Marx völlig deformiert zu haben. Sämtlichen Marx-Interpreten des 20. Jahrhunderts sei es nur um Apologetik gegangen. Haug fordert dagegen eine Aufarbeitung, die sich nicht erhaben dünkt über allen traditionellen Marxismus. An die Stelle einer vernichtenden Kritik müsse eine »rettende Kritik« treten, die aufnimmt, was bewahrenswert ist, vervollkommnet, was sich als unvollkommen erwiesen hat, und überwindet, was sich als falsch herausstellte.

Die Autoren der Neuen Marx-Lektüre behaupten desweiteren, Marx bediene sich im »Kapital« nur der logischen Methode. Die »orthodoxen Traditionsmarxisten« sagen in Anlehnung an Friedrich Engels, dass Marx sowohl logisch als auch historisch argumentiere. Haug zeigt, dass Marx die dialektische Methode anwendet, von ihm auch »Entwicklungsmethode« genannt. Der Weg der Erkenntnis führt über die Analyse der Praxis. Gemäß der achten Feuerbach-These finden alle Mysterien »ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis«.

Haug widerspricht zudem jenen Vertretern der Neuen Marx-Lektüre, die suggerieren, dass die Wertformenanalyse, mit der Marx die Geldwerdung begründet, eine reine Gedankenkonstruktion sei. Der Herausgeber des »Historisch-kritische Wörterbuches des Marxismus« setzt im Sinne von Marx dagegen, dass es sich hierbei um Praxisformen handelt. Die historische Praxis bestätigt die Wertformenanalyse, mit der Marx das Geld als »letztes Produkt« des Warenaustausches auch logisch begründet. Marx ist kein »monetärer Werttheoretiker«, sondern ein »wertformanalytischer Geldtheoretiker«, korrigiert Haug. Und anders als jene Ökonomen, die glauben, seit der Aufhebung der Golddeckung sei Papiergeld das »wirkliche Geld«, urteilt er vorsichtig: Der Wertanker in Gestalt der alten Geldware, des Goldes, lauere »beständig in der Resere auf Momente, die sie reaktivieren«.

Dass Marx in seiner Werttheorie geirrt habe, behaupten keinesfalls nur seine Gegner. In der von Bertram Schefold verfassten Einführung zum dritten Band des »Kapitals« in der von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften edierten Marx-Engels-Gesamtausgabe, MEGA, heißt es, es sei »rätselhaft, wie man an der Vorstellung, die Arbeit als abstrakte bestimme den Wert der Waren, festhalten will«. Das Beharren auf der Wertlehre habe Marx an analytischen Fortschritten gehindert. (MEGA II/15: S. 898 ff). Wer aber das arbeitswerttheoretische Fundament angreift, der will, dass auch das darauf errichtete Gesamtgebäude einstürzt.

Ob diese Furcht im Fall der Herausgeber der MEGA berechtigt ist oder nicht - Haugs Leseeinführung ist wichtig, weil es Schneisen zu den Inhalten des »Kapitals« schlägt und hilft, die von der Neuen »Kapital«-Lektüre» angelegten Irrwege zu umgehen. Wer das große Werk von Marx und durch ihn die Welt von heute verstehen will, dem sei die Streitschrift aus der Feder des emeritierten längjährigen Professors für Philosophie an der Freien Universität Berlin wider die Falschleser wärmstens empfohlen.

Wolfgang F. Haug: Das «Kapital» lesen. Aber wie? Materialien zur Philosophie und Epistemologie der marxschen Kapitalismuskritik. Argument Verlag, Hamburg 2013, 310 S., br., 19,50 €.

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