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Männer am Stammtisch

  • Frank Schmarsow aus Osterburg
  • Lesedauer: 4 Min.

Der nasse Novemberwind pfiff durch die kahlen Zweige, trieb Laub und Papier durch die Gassen der Altstadt und drehte den Leuten die Regenschirme um. Bei «Mutter Suppengrün» in der gemütlichen Kneipe «Zum steifen Schorsch» im Viertel St. Georg war der Stammtisch an jenem Freitag wie immer gut besetzt. Für die acht Zecher so um die Fünfzig, die freitags zwischen 16 und 20 Uhr hier das Vorrecht haben - wie es das Schild «Hier sitzen immer die, die immer hier sitzen» ausweist -, war es gewissermaßen Selbstverpflichtung, während dieser Zeit anwesend zu sein.

Dann geschah eines Tages etwas, das Folgen haben sollte. Ewald, genannt der «Krauter», ein aufs Altenteil geschobener Gärtner, war eine Zeit lang ungewöhnlich ruhig und schüttete ebenso ungewöhnlich viel Schnaps in sich hinein, bis er nach einiger Überwindung das Wort ergriff, mit schon deutlich schwerer Zunge. «Leute, ihr glaubt ja gar nicht, wie seltsam das Leben manchmal so mit uns umspringt. Ging ich doch neulich unseren Hundert-Meter-Ku’damm lang, trat mir so ein Fliegenfranz in den Weg und quatschte mich an, so ganz höflich: ›Gestatten Sie mein Herr, kann ich Sie kurz etwas fragen?‹ Ich sagte: ›Ob sie können, weiß ich nicht, aber Sie dürfen auch nicht, denn ich habe es sehr eilig. Wenn Sie mich nämlich fragen, und ich antworte Ihnen, werden Sie sich bedanken und mir sicher Grüße an meine Familie mit auf den Weg geben. Sofort würde ich misstrauisch werden und mich fragen: Woher kennt der Kerl meine Familie? Und in diesem Zusammenhang konkreter: meine Frau. Ich würde mir den Kopf darüber zerbrechen und meine Frau, mit der ich seit 29 Jahren harmonisch zusammen lebe, vielleicht eines Seitensprungs bezichtigen, und das sicher ungerechtfertigt. Aber so ein kleiner Stachel würde wo möglich bleiben und bohren, begreifen Sie das, guter Mann? Und dann? Dann werde ich vielleicht selbst Gewissensbisse bekommen, weil ich, nun ja, hin und wieder in fremden Betten gewildert habe. Das jüngste Abenteuer ist erst drei Tage alt. Und um jetzt derartige Überlegungen anzustellen, habe ich im Moment einfach keine Zeit, denn, wie gesagt, ich habe es sehr eilig‹».

Der Krauter machte eine kurze Pause, um einen Schluck Klaren zu kippen und mit Bier nachzuspülen. «Und wie ging das nun weiter», fragte der Apotheker Pillen-Karl gespannt, der dafür bekannt war, wie ein ausgelaugter Schwamm jeden Tratsch aufzusaugen. Ewald wand sich auf seinem Stuhl, aber nun hatte er mit der Geschichte begonnen, und es war logisch, dass er auch zum Schluss kommen musste. Also fuhr er fort: «Der Mann ließ sich aber nicht abweisen. ›Ich weiß von Ihrer jüngsten Eskapade‹, hat er ruhig gesagt. ›Meine Frau hat sie mir gebeichtet. Aber um auf meine Frage zurückzukommen. Ich wollte von Ihnen lediglich wissen, wie spät es ist, denn ich habe meine Uhr bei Ihnen vergessen. Und nun grüßen Sie bitte Ihre Frau und meinen Sohn von mir‹».

«Aua», rief Karl mitfühlend. «Da hast du dich aber ganz schön in die Nesseln gesetzt.» Und vor sich hin murmelnd: «Ein Trost, dass es anderen auch so geht.»

«Was soll denn das nun wieder heißen», fragte sein Tischnachbar, der stehend wohl um die zwei Meter maß, aber spindeldürr war. Ihm gehörte die größte Tischlerei in der Stadt. Er hatte das Gemurmel verstanden und witterte ein weiteres pikantes Histörchen. Und Karl, wohl der Liebschaft überdrüssig und der Ansicht, sie bei dieser Gelegenheit seinerseits unproblematisch aufkündigen zu können, meinte: «Dass ich dir als Hobelspan das sagen muss: Deine Betten knarren entsetzlich. Dagegen solltest du unbedingt etwas machen.»

«Karl, Karl!» äußerte sich da Bankdirektor Holzapfel gespielt vorwurfsvoll, aber mit wissendem Augenzwinkern. «Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.»

«Habe ich es da eben klirren hören?», fragte Glasermeister Scheibener hämisch, den seine Frau unlängst mit dem Gesellen verlassen hatte, wie es die Spatzen von St. Georgs Dächern lärmten.

Nur Französischlehrer Breitlich, ein Schöngeist durch und durch, behielt die Contenance, in gespannter Erwartung dessen, was das erste Rendezvous am heutigen Abend mit der ein wenig molligen Frau des Bankdirektors bringen würde.

Minutenlang herrschte betretenes Schweigen. Und in die Stille mischte sich nach einiger Zeit Stühle rücken. Einer nach dem anderen stand auf, legte der Wirtin wortlos seine Zeche auf den Tresen, griff nach dem Mantel und verschwand im Herbstwind.

Noch Wochen wartete «Mutter Suppengrün» vergeblich auf ihre Stammtischrunde. Schließlich schenkte sie den eichenen Stammtisch dem städtischen Altenpflegeheim für die Skat- und Rommeerunden der betagten Herrschaften, zu denen sie sich dann eines Tages auch gesellte.

Der 71-jährige Journalist ist seinem Bruder sehr dankbar, dass er ihn auf den Wettbewerb aufmerksam gemacht hat. Ich bin nächstes Jahr wieder dabei«, verspricht er, und schließt gleich zur Abschlussveranstaltung ein nd-Abo ab. »So kann mir der Aufruf zum 13. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb nicht durch die Lappen gehen.«

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