ANC mangelt es an Konzepten

Gewerkschafter Jim Irvin über die Industrie- und Landpolitik in Südafrika

  • Lesedauer: 5 Min.
Jim Irvin, Jahrgang 1968, engagierte sich bereits als Schüler und Student im South African National Student Congress (SANSCO). 1991 begann er bei dem Reifenhersteller Firestone zu arbeiten und wurde 1993 zum Betriebsrat gewählt. In der Metallarbeiter-Gewerkschaft NUMSA übernahm er 2000 die Funktion eines Regionalsekretärs und 2008 die des Generalsekretärs. In diesem Amt wurde er 2012 bestätigt. Über die Lage in Südafrika 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid sprach mit ihm für »nd« Christa Schaffmann.

nd: 2009 hatte die südafrikanische Metallarbeitergewerkschaft NUMSA 219 000 Mitglieder und bis 2016 wollen sie 400 000 erreichen. Die Gewerkschaft ist ein Machtfaktor. Wozu wollen Sie ihre Macht verwenden?
Irvin: Wir werden die 400 000 vermutlich schon im kommenden Jahr erreichen. Das Kapital treibt die Arbeiterdurch viel zu niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen zu uns. Sie brauchen jemanden, der ihre Interessen verlässlich in Wort und Tat vertritt, Vertrauensleute, die diesen Namen verdienen, deren Arbeit transparent ist und einer Kontrolle standhält. Die Gewerkschaft kann das nur leisten mit gut geschulten Funktionären auf allen Ebenen, die es mit den Managern aufnehmen können, deren Aufgabe in der Profitmaximierung besteht. Viele Menschen erkennen zudem das politische Engagement der NUMSA an, das weit über die Anliegen der Metallarbeiter hinausgeht. Immer mehr Arbeiter verstehen, wie nötig eine starke, geschlossen auftretende Gewerkschaft mit hohem Durchsetzungsvermögen ist.

Manche Ziele lassen sich durch Streiks durchsetzen; nicht so Ihre politischen Forderungen an den ANC. Was ist Ihre Hauptkritik?
Der ANC hat seit 1994 Schritt für Schritt den Pfad der Freedom Charta* verlassen, hat eine neoliberale Wirtschaftspolitik favorisiert, die sich gegen die Arbeiterklasse richtet und unsere industrielle Basis zerstört. Südafrika erlebt eine De-Industrialisierung. Unser Land ist reich an Rohstoffen, von denen viel zu wenige im Land weiter verarbeitet werden. Warum sorgt die Regierung nicht dafür, dass der Bergbau, Schlüsselindustrien und Banken nationales Eigentum werden, nationaler Kontrolle unterliegen und die Gewinne dem Volk zugute kommen - unabhängig von der Hautfarbe? Stattdessen lässt sie zu, dass Individuen durch sie reich werden, ihr Geld ins Ausland schaffen, dort investieren und Jobs schaffen, die wir hier angesichts einer Arbeitslosenrate von über 40 Prozent so dringend brauchen. Schlimmer noch: Der Staat subventioniert Jobs, damit das Kapital keine Abstriche an Profiten machen muss.

Wieso hat der ANC - obwohl die mächtige Gewerkschaft NUMSA ihm erstmalig die materielle und personelle Unterstützung entzogen hat, obwohl der Unmut über die Entwicklung von und unter dem ANC groß ist - dennoch bei den Wahlen im Mai 62 Prozent der Stimmen gewonnen?
Wenn Wähler unter den 29 kandidierenden Parteien den ANC - verglichen mit der rechtsgerichteten und die Interessen der Besitzenden vertretenden Democratic Alliance (DA) und den anderen Parteien - für das kleinere Übel halten, dann ist das so. Es gibt im Moment keine Partei, die die Ziele der Freedom Charta glaubhaft vertritt. Selbst die Kommunistische Partei ist Staatspartei geworden. Sie nutzt ihre Sitze im Parlament nicht im Interesse der Arbeiterklasse, was ihre Aufgabe wäre, sondern verteidigt die bestehenden Strukturen.

Dann besteht der einzige Ausweg in der Gründung einer neuen Partei?
NUMSA will keine Partei werden, sondern eine starke Gewerkschaft sein. Es gibt schon so viele Parteien in Südafrika; es geht nicht darum, jetzt übereilt eine weitere zu gründen. Das will sorgfältig überlegt und geplant sein, denn es geht uns nicht um ein paar Parlamentssitze oder Pfründe für ein paar Führungskräfte. Wir wollen Katalysator für einen Prozess sein. Eine Vereinte Demokratische Front, wie wir sie uns perspektivisch vorstellen, wächst auf den Straßen, wächst mit Protesten gegen Missstände, wächst in Arbeitskämpfen und mit dem Wissen um Klasseninteressen und -gegensätze. Sie beschränkt sich nicht auf die Arbeiterschaft, sondern schließt Menschen aus der Mittelschicht ein, die wie wir in Massenarbeitslosigkeit und Armut große Risiken für das Land sehen und manche unserer Ziele - zum Beispiel bessere Bildung - teilen.

Ihr Anliegen geht über das der Metallarbeiter hinaus. Wie sehen sie die Lage der Farmarbeiter und landloser Bauern, deren Vorfahren durch den Land Act 1913 aller Boden genommen und in den Besitz der weißen Minderheit überführt wurde?
Die Landfrage gehört dringend auf die Tagesordnung. 87 Prozent des Bodens befindet sich noch immer in der Hand der Weißen. Das Land stellt einen nationalen Schatz dar, und der Staat sollte Hüter dieses Schatzes sein. Er sollte dafür Sorge tragen, dass es optimal genutzt und nicht zum Spekulationsobjekt wird. Die Kernfrage ist für mich deshalb nicht die Umverteilung von Weiß an Schwarz. Wir brauchen eine hohe landwirtschaftliche Produktion zur Versorgung der eigenen Bevölkerung. Deshalb wäre eine Umverteilung mit dem Risiko sinkender Erträge keine Lösung. Ich erkenne beim ANC jedoch kein Konzept zur Lösung dieser Frage.

Haben Sie einen Vorschlag?
Ja. Bereits zum Ende der Apartheid existierten Strukturen, die man mit veränderter Zielstellung hätte übernehmen können. Die National Party, die das Land von 1948 bis 1994 regierte, hatte die bedeutende Rolle des Staats im Agrarsektor erkannt. Es gab eine staatliche Aufsicht beim Mais und bei Baumwolle; in den Homelands gab es Bewässerungssysteme. Bei Bedarf wurde Saatgut zur Verfügung gestellt. All diese Strukturen sind zusammengebrochen. Der ANC hat das zugelassen als wären auch die Technik und Steuerungsmechanismen aus Apartheid-Zeiten Teufelswerk.

*) Die Freiheitscharta war ursprünglich ein Gegenprogramm zur Apartheid. Sie enthielt Forderungen nach Demokratie, Gleichberechtigung aller Einwohner Südafrikas unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe oder Geschlecht sowie nach Respektierung grundlegender Menschenrechte. Die Charta enthielt auch Forderungen nach einer teilweisen Kollektivierung von Monopolunternehmen, Banken und Bodenschätzen sowie einer staatlichen Lenkung der Wirtschaft.

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