Wie ein Klumpen schmerzender Erde

Das Jüdische Museum Berlin beleuchtet den Ersten Weltkrieg in jüdischer Erinnerung

Eine Ausstellungsvorbesichtigung hat ihren ganz besonderen Reiz. Man kann den Machern über die Schulter schauen, die zumeist buchstäblich bis zur letzten Minute vor der Eröffnung werkeln, bohren, schrauben, hämmern, kleben. So dieser Tage im Jüdischen Museum in Berlin.

In Reichweite der wissenschaftlichen Mitarbeiter liegt auf einem Rollwagen ein schwerer Metallkoffer, das Maul weit aufgesperrt, gefüllt mit diversen Schraubenziehersets, einem Akkubohrer, Messband, Nägeln ... Die Papierrestauratoren sind derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie die neugierigen Blicke in ihrem Rücken nicht spüren. Der junge Mann vor der Glasvitrine schiebt vorsichtig, »bewaffnet« mit Handschuhen (in der türkisblauen Farbe des »nd«), ein vergilbtes Foto auf der Auslage zwei, drei Zentimeter nach rechts. Lehnt sich zurück. Prüfender Blick auf die vor ihm auf schwarzem Tuch ausgebreiteten Dokumente. Der Abstand stimmt noch nicht. Er beugt sich vor, verrückt die Fotografie um zwei, drei Millimeter nach links. Exakt. Er scheint zufrieden. Nun wird noch das Spotlight ausgerichtet.

»Der Erste Weltkrieg in der jüdischen Erinnerung« heißt die neue Kabinettausstellung im Libeskind-Bau. Über 170 Exponate wählten die Kuratorinnen Inka Bertz und Leonore Maier aus der reichhaltigen Sammlung ihres Museums aus, das mit 3000 Objekten neben dem Leo-Baeck-Institut in New York und den Central Archives in Jerusalem über den weltweit größten Bestand zu diesem Kapitel Geschichte verfügt. Qual der Wahl. Sie hat sich gelohnt.

Hatte man vor zehn Jahren den Großen Krieg von 1914 bis 1918 aus biografischer Perspektive beschaut, so suchte man jetzt, dessen Platz im kollektiven Gedächtnis der deutschen Juden zu verorten. Die Historikerinnen Bertz und Maier waren selbst überrascht, welch immense Bedeutung diesem Krieg noch über Generationen zukam. Wovon die von den Nachfahren sorgsam bewahrten Briefe und Postkarten, Fotoalben, Feldgebets- und Gesangbücher zeugen. Zwei Wochen vor Ausstellungseröffnung kam ein Päckchen aus Uruguay, darin ein in Leinen gehülltes Kästchen, liebevoll bestickt: »Feldpostbriefe 1914/15«.

100 000 jüdische Soldaten sind für Deutschland in den Ersten Weltkrieg gezogen. Zehntausende kehrten hochdekoriert von den Fronten zurück. In der zwölf Meter langen Vitrine im Rafael Roth Learning Center des Hauses sind Eiserne Kreuze I. und II. Klasse zu sehen. Und auch schwarze Kreuze, bestimmt als (schwacher) Trost für die trauernden Witwen.

Unglaublich, aber wahr: Viele deutsche Juden wurden noch ausgezeichnet, als Hitler bereits Reichskanzler war. Am 13. Juli 1934 stiftete Reichspräsident Hindenburg anlässlich des 20. Jahrestages des Kriegsbeginns ein »Ehrenkreuz für Frontkämpfer«. Im Fundus des Museums befinden sich mehr als zwanzig dieser Honneurs. »Im Namen des Führers und Reichskanzlers« wurde am 14. April 1935 dem Zahnarzt Dr. Herbert Schwalbe das Ehrenkreuz durch den deutschen Geschäftsträger in Teheran ausgehändigt. Der Ingenieur Gerhard Meyer nahm die Ehrung fast zeitgleich in Paris vom deutschen Konsul entgegen. Selbst für die bereits ahnungsvoll vor braunen Antisemiten ins Exil geflohenen Juden war offenbar diese Anerkennung ihres opfermutigen Einsatzes fürs Vaterland wichtig. Und blieb sie. Auch als die anfänglichen Ausnahmeregelungen für jüdische Frontsoldaten im NS-Staat nicht mehr galten. Noch am 20. Juni 1937 bekam ein Kaufmann namens Ludwig Simon in Berlin-Charlottenburg das Kreuz verliehen - zwei Jahre nach den Nürnberger Rassegesetzen, ein Jahr vor der Reichspogromnacht!

Nein, die Juden sind keineswegs unisono euphorisch an die Fronten marschiert, betont Kuratorin Inka Bertz. Am Anfang der Schau blickt den Besucher ein junger Gert Heinrich Wollheim an. Sein Selbstporträt entstand an der Westfront, wo er Zeuge des verlustreichen wie zermürbenden Stellungskrieges wurde. Aus den Augen des unerfahrenen Soldaten spricht Müdigkeit und Melancholie. »Vier Wochen lag ich brach wie ein Klumpen heißer, schmerzender Erde«, notierte Ludwig Meidner. Im Gegensatz zu seinem Freund, dem Dichter Ernst Wilhelm Loth, der sich freiwillig gemeldet hat und bereits nach sechs Wochen in Frankreich fiel, nahm er die Nachricht vom Kriegsausbruch nicht mit Begeisterung auf. Ende 1914 veröffentlichte er seine Mappe »Krieg«. Die Tuschzeichnung »Schlacht« bietet eine apokalyptische Szenerie: Kanonen und uniformierte Menschenleiber verschmelzen in eins.

In den »großen Krieg der weißen Männer« (Arnold Zweig) wurden auch die kolonial unterdrückten Völker gerissen. Menschen unterschiedlicher Hautfarbe füllten die Kriegsgefangenenlager. »Halbmondlager« wurde dasjenige in Wünsdorf bei Berlin genannt. Dorthin zog es nicht nur Anthropologen, sondern auch Künstler. Stramm und selbstbewusst präsentiert sich der vom Bildhauer Rudolf Marcuse in kleiner Plastik verewigte Soldat mit Turban, offenbar ein für das britische Empire in das große Schlachten getriebener Hindu. Hermann Struck versuchte die Individualität der Gefangenen in seinen Zeichnungen einzufangen; der vom Anthropologen Felix von Luschan verfasste Begleittext zu seiner Mappe betont die Gleichwertigkeit der Völker wider die Thesen des französischen Rassisten Arthur de Gobineau, Vordenker der »arischen Herrenmenschen«.

An der Ostfront, im osteuropäischen Schtetl, trafen jüdische Künstler wie Struck, Jacob Steinhardt und Ernst Oppler auf eine ihnen fremde, sie faszinierende religiöse Praxis und Lebensweise. Struck glaubte dort Tradition und Utopie vereint und meinte gar, das Ostjudentum könne Quelle einer kulturellen Erneuerung des westeuropäischen sein. Von Empathie erfüllt ist ebenfalls das Werk von Arnold Zweig »Das Ostjüdische Antlitz«. Sammy Gronemann hingegen verfasste eine Satire: »Hawdoloh und Zapfenstreich«. Man hätte es wahrlich vermisst, wäre es hier nicht ausgestellt: Zweigs Buch vom Streit über den Sergeanten Grischa, das in der DDR schulische Pflichtlektüre war. Der literarische Held des 1927 bei Kiepenheuer & Witsch erstmals erschienenen Romans, ein russischer Kriegsgefangener, wird auf Befehl von »General Schieffenzahn« - unverkennbar: Ludendorff - exekutiert.

»Liebermann gegen Ludendorff« ist der letzte Abschnitt überschrieben. Die zum zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns gezeichnete Hommage des Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste für die Gefallenen wurde 1924 vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten als Lithographie massenhaft verlegt - als Replik auf die Diffamierung jüdischer Kriegsveteranen durch den Ex-Oberkommandierenden des Heeres und Hitlerputschisten Ludendorff. Auch die vom Bund zwei Jahre nach dem Machtantritt des Weltkriegsgefreiten Hitler herausgegebenen »Kriegsbriefe gefallener Deutscher Juden«, trotzige Antwort auf die zunehmende Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, ziert eine Grafik des just 1935 in Berlin verstorbenen Malers Max Liebermann.

Vornehmlich präsentiert die Schau verdinglichten Kriegsalltag. Dank der Erfindung handlicher Rollfilmkameras sind zahlreiche Amateuraufnahmen aus Schützengräben und Lazaretten sowie von Festen und Feiern überliefert. Brav in Reih und Glied sitzen an langen Sedertafeln über fünfzig junge Burschen in Feldgrau, zugeknöpft bis unters Kinn. Wie viele von ihnen überlebten das erste industrielle Massenmorden? Andere Fotografien zeigen jüdische Soldaten an der Seite nichtjüdischer. Die tief verinnerlichte (jedoch vielfach wohl eher vermeintliche) Kameradschaft war ein Beweggrund, dass diese Aufnahmen von den darauf Abgelichteten und deren Angehörigen über Jahrzehnte wie Reliquien gehütet wurden. Sie schützten letztlich nicht vor der schmerzenden Erkenntnis und Einsicht, dass »der« Jude von »dem« Deutschen nicht als ebenbürtig angesehen wurde. Jüdische Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg pendelte zwischen der Erfahrung von Zugehörigkeit und Ausschluss, sagt Inka Bertz. Die »Judenzählung« 1916 im deutschen Heer wurde als Affront empfunden, ergänzt Leonore Maier.

Dass der irrwitzige nationale Furor auch vor der Wirtschaft nicht halt machte, bekunden Zigarettenschachteln von Manoli und Garbathi. Die zu britisch klingende Marke »Dandy« wurde fix in »Dalli« umgetauft. Ebenso sind in der Exposition im Jüdischen Museum - wie in einer ähnlichen im einige Kilometer Luftlinie entfernten Deutschen Historischen Museum Unter den Linden - vielfältige Aufrufe zur Zeichnung von Kriegsanleihen zu sehen. Imposanter Blickfang: zwei Pickelhauben, von einem Mitglied der Ullstein-Familie nebst Feldüberzug und Hutschachtel beigesteuert. Zur Geschichte der Memorabilia gehören die Erzählungen der Nachfahren und Stifter. Einblicke in diese vermittelt in der Schau und auf der Homepage des Museums ein Trailer, der die »Katastrophe« von 1933 bis 1945 einbezieht.

Bis 16. November, Jüdisches Museum, Mo 10-22 Uhr, Di-So 10-20 Uhr.

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