Strandgutmenschen

»Die Schutzbefohlenen« von Elfriede Jelinek am Thalia Theater Hamburg

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Kreuzfahrten sind zur touristischen Verkommensform der Weltumsegelung geworden. Auf Glamour Liner und also auf hohe See begeben sich Passagiere, die das rettende Ufer doch längst erreichten. Und die es nun besetzt halten und machtstreng bewachen. So hat sich das Mittelmeer in eine Transitstrecke mit abstrusem Gegenverkehr verwandelt, aus Luxusgiganten – und Holzschiffen. Die wie verwitterte Archen wirken und in denen Flüchtlinge versuchen, einem Elend zu entkommen – viel gewonnen schon, wenn man, und sei es halbtot, als Strandgut aufgesammelt werden kann. Jene, die mit allen Wassern eines günstigen Schicksals gewaschen sind, teilen sich als Urlauber die Horizonte mit Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht. Traumschiff-Truppen und Boat People. Die einen saufen, weil sie Glück empfinden, die anderen ersaufen, weil sie es finden wollten. Saufen oder ersaufen – beidem ist gemeinsam, dass einem die Sinne schwinden, so schafft sich der Zynismus seine ganz eigene Metaphorik. Ja, Wasser hat keine Balken. Sie werden gebraucht. Aus ihnen errichten wir die Barrieren, daran Flüchtlinge abprallen, wenn sie Europas Küsten erreichen. Und erfahren müssen: Der endlich mühevoll erreichte Strand hält, was der Begriff verspricht – es darf gestrandet werden.

Von Zynismus war die Rede. Er hat Sprachgewalt. Er wirft gern alles in einen Topf. Und wir schlucken’s bedenkenlos. Denn wer kann heute ernsthaft über Flüchtlinge reden wollen, ohne sich zum Beispiel gegen den Begriff der Steuerflüchtlinge zu wenden! Das sind aber keine Flüchtlinge, die schlagen selber in die Flucht – den Anstand, das Maß einer Gier begrenzenden Moral. Am Thalia Theater Hamburg hat die Beschwörung dieser so ganz anderen Moral jetzt seine Aufführung: »Die Schutzbefohlenen« von Elfriede Jelinek. Die österreichische Nobelpreisträgerin verknüpft ihren Zorn gegen Europas Mauer-Mentalität mit der Beschwörung antiker Dramenkraft, Texten aus »Die Schutzflehenden« von Aischylos. Video, Live-Musik, ein Flüchtlingschor – Schauspiel in Konfrontation und Kooperation mit den Assoziationshilfen aus Dokument und Zeitzeugenschaft.

Jelinek schrieb ihr Stück vor geraumer Zeit, nachdem Flüchtlinge vorwiegend aus Pakistan, bedroht von Abschiebung, eine Wiener Kirche besetzt hatten. In Hamburgs Stadtteil St. Pauli wurde der Text vor über einem Jahr, ebenfalls in einer Kirche und unter Beteiligung Betroffener, als szenische Lesung uraufgeführt. Nun inszenierte Nicolas Stemann »Die Schutzbefohlenen« am Thalia Theater – längst ein Spezialist für den besonderen poetischen Charakter dieser Jelinekschen Literatur. Die sich in Wortfolgen, in Satzflüsse hineinhackt, um aus geläufig Gesagtem neuen Sinn zu reißen; Literatur, die Sprachbausteine wegspringen und abstürzen lässt in verstörende Assoziationen. Textrollfelder, auf denen die Gedanken hochjagen, im eigenen Treibstoff explodieren; Kaskaden aus Wortwut und Wortwitz; schrille kleine Hassmaschinen. Hier nun gekoppelt mit Erlebensprotokollen jener, die von sich sagen und uns sagen: »Ich bin gekommen, aber ich bin gar nicht da.« Bittende um Schutz – ohne wirkliche Schutzräume. Bleibende nur in einem traurigen Sinne: Sie bleiben ohne Arbeit, ohne Aussicht auf gesicherten Aufenthalt.

Das Berührende an der Aufführung ist die Ehrlichkeit, mit der Stemann Unsicherheit gesteht: Wie geht man um mit einem so bedrängenden Stoff, bei dem jede Formung, jeder Gestaltungswille sofort den Verdacht technischer Kühle oder aber eines falschen Pathos wecken würde? Das Akute hemmt. Wie begeben sich Weiße in die Rolle von Schwarzen? Mit betonter (Selbst-)Ironie durchbrechen Sebastian Rudolph, Felix Knopp und Daniel Lommatzsch den angebrachten Ernst ihrer Klagetexte über gewürgte Hoffnungen und drückende Angst; man fällt sich gegenseitig ins Wort, mit augenzwinkernd grübelnder oder bewusst ungelenker Pose wird das Problem umkreist, wie überhaupt man Jelineks Text sprechen könne; man steht da und steht zugleich neben sich; schwarz geschminkte Gesichter, im Gegenzug weiß geschminkte Gesichter – das ist Spiel mit der handelsüblichen Darstellungsschablone (aber seltsam, dass man sich geradezu die Hände reibt, wenn auf diese Weise verbissen eifrigen »Blackfacing«-Feldwebeln eins ausgewischt wird).

Mit Barbara Nüsse und dunkelhäutigen Schauspielern (Thelma Buabeng und Ernest Allan Hausmann), mit dem Auftritt von Flüchtlingen der sogenannten Hamburger Lampedusa-Gruppe, mit deren Berichten und Diskussion zum Thema gewinnt die Aufführung dann ihre ungebremste Erschütterungskraft. Bewegung, körperliches Bedrängen, Unruhe, eine Atmosphäre der Enge wie der Ruppigkeit, ihr zu entfliehen. Gemeinsamer Kampfeswille teilt sich mit, gebrochen von Schüben aus Nervosität, Egoismus, Unkontrolliertheit. Gruppendynamik. »My name is John. I live in container. I hope I can stay in Germany.« Das erschöpfte Gesicht eines Mannes auf einer Videoleinwand. An der Rampe hochgereckte Arme: »Freedom is everybody’s right. We want here to stay!« Und wie ein schlechter Schlager klingt der Gesang vom »Fundament der Werte«, in das wir einbetoniert wurden, um unser Herz an die Kälte des Steinernen zu gewöhnen. Conchita-Wurst-Kopien als Sendboten einer finalen Lachkultur, die blankes Abendland offenbart: Gute Nacht, Deutschland!

Flügel, Schlagzeug, rote Plastestühle. Mehr und mehr Wirrwarr und Chaos. Vom Himmel fallen Carepakete – Overalls, die helfen und wärmen sollen, werden zum treffenden Bild, wie Menschen verschwinden, wie sie ins Anonyme, Verschattete, ja Vermummte rutschen. Gewitzelt wird in Hamburg mit realem Ausländerhass, das Rollenspiel »eskaliert«, plötzlich kämpft man um einen freien Stuhl, Gitterwände zeigen ihre stahlklaren und Stacheldrahtrollen ihre scharfen Argumente.

Das Theater holt unglücklich kämpfende Flüchtlinge auf die Bühne und setzt sich dem Verdacht aus, es wolle merklich werden durch die Aufmischung von Bizarreffekten. Denn naturgemäß bilden Arbeit am Kunstprodukt und reales Aufgewühltsein durch erzählenden Dokumentarismus (Folter, Erniedrigung, Mord) einen zerrenden Widerspruch: Die Flüchtlinge sind Flüchtlinge – aber auch Kunstfiguren. Während Martin Heidegger noch sagte, das (theatralische) Kunstwerk stelle eine Welt auf, muss jedes heutige Bühnenwerk die Kunst beherrschen, Welt einzustellen, wie man Zeitarbeiter einstellt. Und warum? Weil es kaum einen anderen öffentlichen Ort für Verlierer gibt. Es gibt keinen Landtag, der Flüchtlingen eine Bühne böte. Es gibt für sie keinen Raum im Bundestag: Sprecht, sprecht zu uns, bis wir die Fassung verlieren, die uns leider schützt vor radikaler Zuwendung! Törichte Vorstellung, gewiss. Aber die erfolgreichste Kritik am gegenwärtigen Theater bestünde doch in der unfreundlich-zornigen Übernahme seiner Collage-Techniken durch das parlamentarische, politische Personal. Das wäre Mut zur Aufmischung der eigenen öden Gefangenheit in gut bezahlten Gewohnheiten. Die Hilflosigkeit der Regierenden hätte Würde und Adel, wenn sie denn wenigstens den wassertriefenden Überlebenden ins Gesicht gestottert würde. Von Angesicht zu Angesicht. Mit der gleichen inneren Beteiligung, mit der man vor 25 Jahren die DDR-Fliehenden auf ihren Sprints über ungarische Wiesen hin zu österreichischen Wiesen begleitete; Fliehende damals, deren gehetzter Atem nur fürs ungehemmte Weinen reichte.

Das Weinen ist nicht verschwunden, nicht die Menge der Bittstellenden. Aber von der Bühne des Thalia Theaters weht der bittere Gedanke, noch immer niste im europäischen Gemüt die jahrhundertelange Gewöhnung an imperiale Optionen für das blanke Unrecht. Es ist das Gemüt, das einst die Schotten dicht machte, um zu Eroberungen hinauszuziehen, und es ist heute das Gemüt, das die Schotten dicht macht, wenn jene aufstörende Wahrheit, wir säßen doch alle in einem Boot, an die goldenen Tore klopft.

Nächste Vorstellungen: 11. und 12. Oktober

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