Wozu Fremdsprachen lernen?

In Europa gibt es 200 Sprachen. Nicht jede genießt die gleiche Wertschätzung

  • Ralf Höller
  • Lesedauer: 7 Min.

Wer viele Sprachen spricht, kann in vielen Sprachen Unsinn reden« - das Urteil des österreichischen Erzählers Alexander Roda-Roda stammt aus einer Zeit, in der andere Länder nur besucht wurden, um sie zu erobern. Die Einstellung zum Krieg hat sich geändert, die zum fremden Kommunikationsmittel kaum: Immer noch spricht fast die Hälfte der Europäer nur eine Sprache - die eigene.

Das Erlernen einer fremden Sprache, lautet ein Leitsatz neusprachlicher Schulausrichtung, ist eine Verbeugung vor der fremden Kultur. In Ländern mit zahlreicher Bevölkerung findet sie eher selten statt. Dafür machen Einwohner kleiner Länder den Diener gleich mehrfach: Oft lernen sie außer der Muttersprache noch die des großen Nachbarn. So sprechen viele Portugiesen Spanisch, aber wenige Spanier Portugiesisch. Die meisten Niederländer können Deutsch, aber welcher Deutsche spricht schon Holländisch? Und in Slowenien, fast vollständig von der Adria abgeschnitten und eingekeilt zwischen den Nachfolgestaaten der k. u. k. Doppelmonarchie, wird im Westen Italienisch, im Norden Deutsch, im Osten Ungarisch, im Süden Kroatisch und mit den Touristen Englisch parliert.

26. September, Europas Tag der Sprachen

Der Europarat deklarierte den 26. September zum »Europäischen Tag der Sprachen«. Seit 2001, dem »Europäischen Jahr der Sprachen«, wird er jährlich gefeiert, um den Anspruch einer intensiven Förderung der Mehrsprachigkeit aufrecht zu erhalten. Menschen in ganz Europa sollen zum Erlernen von Fremdsprachen motiviert werden, auch, weil die Wertschätzung der Sprachen mit einer Wertschätzung der sich darin ausdrückenden Kulturen einhergeht.

In vielen Ländern wird dieser Tag für lokale Aktionen, Initiativen und Veranstaltungen genutzt, die vom Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarates koordiniert werden. Nicht kleinzureden - egal, in welcher Sprache - ist aber die Tatsache, dass Einwohner kleinerer Länder sehr viel öfter die Sprachen der größeren Nachbarn erlernen als umgekehrt. Und in mehrsprachigen Ländern sieht sich kaum ein Sprecher der Mehrheitssprache dazu motiviert, die randständigen, teils vom Aussterben bedrohten Idiome zu erlernen. nd

 

 

In Luxemburg lernen alle Deutsch und Französisch, doch in Berlin oder Paris weiß kaum jemand, dass das kleine Herzogtum eine eigene Sprache hat: Lëtzebuergesch. Die benutzt der luxemburgische EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker natürlich nicht, will er sich mit François Hollande oder Angela Merkel unterhalten. Da der Deutschen und dem Franzosen eine gemeinsame Sprache fehlt - beide können kaum Englisch -, läuft die wechselseitige Kommunikation bei EU-Treffen nicht selten über Juncker. Der Kosmopolit aus dem keine halbe Million Einwohner zählenden Volk eignet sich somit ideal für die Rolle eines Vermittlers.

Noch weltgewandter als die Luxemburger, aber politisch eigenbrötlerischer sind die Schweizer: Die meisten können die Landessprachen Französisch, Italienisch, Deutsch, dazu in der Regel auch Englisch; aber in die EU wollen die Eidgenossen nicht. In der Union drin sind die Belgier seit Langem; dafür funktioniert die Verständigung der Landesteile untereinander alles andere als reibungslos. Der Sprachenstreit in unserem westlichen Nachbarland hat schon manche Regierung zum Scheitern gebracht. Die Flamen wollen als Fremdsprache lediglich Englisch akzeptieren; und für viele Wallonen ist es unter ihrer Würde, die frühere Bauernsprache aus dem nördlichen Landesteil zu erlernen. Mit Finnland und der unfreiwilligen Schutzmacht vergangener Jahrhunderte, Schweden, ist es ähnlich, wie Bertolt Brecht in seinen Exiljahren feststellen musste: Dort schweigen die Menschen in beiden Sprachen.

Damit dies nicht so bleibt und die Verständigung der Menschen untereinander zumindest auf unserem Kontinent voranschreitet, hat der Europarat einen besonderen Gedenktag ins Leben gerufen. Der Europäische Tag der Sprachen wird jedes Jahr am 26. September begangen und zielt - so der Europarat, der ihn ins Leben gerufen hat - »darauf ab, die Öffentlichkeit auf die Wichtigkeit des Sprachenlernens aufmerksam zu machen, ein Bewusstsein für alle in Europa gesprochenen Sprachen zu schaffen und das lebenslange Lernen zu verstärken«.

Ein hehrer Anspruch: Allein in Europa gibt es 200 Sprachen, von denen es 23 in den Rang einer EU-Amtssprache geschafft haben. Die Sprachwissenschaft unterscheidet Zwergsprachen, die von weniger als 1000 Menschen gesprochen werden - etwa das in der Grafschaft Cornwall an der Südwestspitze Englands kaum noch vorhandene Cornisch - von kleineren Sprachen wie Walisisch, Luxemburgisch oder Sorbisch. Letztere weisen immerhin bis zu einer Million Sprecher auf. Alles, was von mehr als einer Million Menschen gesprochen wird, gehört zur nächsthöheren Stufe der Millionensprachen, beispielsweise Lettisch, Finnisch und Ungarisch. Die größte Gruppe sind die Weltsprachen mit jeweils mehr als 100 Millionen Sprechern. Hierzu gehören vor allem Englisch, Spanisch, Russisch, Portugiesisch und Französisch. Englisch als Muttersprache hat nach dem Chinesischen mit 573 Millionen weltweit die meisten Sprecher, Spanisch bringt es auf 352 Millionen. Die deutsche Sprache liegt mit 101 Millionen Sprechern auf Platz zwölf. Somit ist das Deutsche gerade noch Weltsprache.

Zurück zum Europäischen Tag der Sprachen: Dessen konsequente Umsetzung würde, etwas optimistisch formuliert, dazu führen, dass sich zumindest in den Grenzgebieten bevölkerungsreicher Staaten die Menschen hinsetzen, um die Sprache ihres kleinen Nachbarlandes zu erlernen. In der Region Trier tun sie das wirklich. Die Volkshochschule in der alten Römerstadt bietet seit Mitte der 1990er Jahre Lëtzebuergesch-Kurse an. Die Kurse sind vollständig ausgebucht, meist wird ein zweiter, in manchen Semestern sogar ein dritter Kurs parallel eingerichtet.

Allerdings genießt das Luxemburgische im Trierer Raum einen gewissen Heimvorteil: »Es ist recht nahe am moselfränkischen Dialekt und daher von den Einheimischen hier ohne große Probleme zu verstehen«, sagt Rita Brockhaus, die Leiterin des Fachbereichs Fremdsprachen an der Volkshochschule. Das kulturelle Interesse stehe bei der Kurswahl klar im Vordergrund und habe durch Luxemburgs Stellung als Europäische Kulturhauptstadt 2007 noch einmal einen enormen Schub erhalten. Doch spielten für manche Teilnehmer auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. So bei Krankenpflegern, die wegen der besseren Bezahlung gern in Luxemburg arbeiten: Die müssen, findet Rita Brockhaus, »die Sprache der Patienten verstehen und sprechen. Gerade im ländlichen Raum reden die älteren Menschen Lëtzebuergesch.«

Den Vorteil räumlicher und sprachlicher Nähe zu Weltidiomen können nicht alle einheimischen Sprecher in Europa für sich nutzen. Vor allem, wenn ihre Sprachinsel Teil eines ungleich größeren Eilands ist. Wie im Fall Großbritannien: Europas bevölkerungsreichste Insel kennt keine Nachbarn. Reist man ins Ausland, heißt es dort gleich, man begibt sich »overseas«, nach Übersee. Zudem ist Englisch europaweit die lingua franca, weshalb sollten Briten also eine Fremdsprache lernen? Ihnen die Vorteile von Sprachkenntnissen bewusst zu machen, wäre ungefähr so sinnvoll wie der Transport von Kohle nach Newcastle. Und dennoch ist Englisch nicht die einzige Sprache auf der Insel.

Neben den Zwergsprachen Cornisch und Gälisch wird im Vereinten Königreich Walisisch gesprochen. Vielleicht auch nur geradebrecht, denn 80 Prozent der knapp drei Millionen Einwohner im Westen der britischen Hauptinsel beherrschen ihr heimisches Idiom nicht. Selbst ihrem Oberhaupt geht es so. Charles, dessen Titel Prince of Wales mit dem des britischen Thronfolgers verbunden ist, spricht Englisch wesentlich besser. Anscheinend eine Selbstverständlichkeit: Bereits Charles’ Besuch eines Walisischkurses war den britischen Gazetten eine Meldung wert. Als Deutschlands Ex-Kanzler Gerhard Schröder in seiner Amtszeit einen Sprachkurs in Wales absolvierte, war von vornherein klar, dass sein Lerneifer nicht der Landessprache Cymraeg galt. Um die zu beherrschen, benötigen selbst talentierte Schüler im Schnitt sechs Jahre. »Ddraig Goch Ddyry Cychwyn« steht auf der Flagge des Landes, doch ob der rote Drache jemals der Asche entsteigen wird, wie die Aufschrift verspricht, ist zumindest bezüglich der Sprache fraglich.

Die heimischen Künstler verschmähen sie. Tom Jones singt lieber auf Englisch, das fördert den Tonträgerabsatz. Selbst der berühmteste Dichter äußerte sich despektierlich über seine Heimat: »Wales ist das Land meiner Vorfahren«, sagte Dylan Thomas, »und die können es gerne behalten.« Da lebte er schon in den USA. Immerhin: In der EU ist Walisisch als eine von 40 Minderheitssprachen anerkannt. Deshalb dürfen britische Minister, die aus Wales kommen, bei EU-Sitzungen in ihrer Muttersprache konferieren. Dies wiederum bietet mehrsprachigen Walisern wirtschaftlichen Anreiz in Form neuer Arbeitsplätze, denn die Reden müssen ja übersetzt werden. Ein entsprechendes Büro wurde in der walisischen Hauptstadt Cardiff eingerichtet.

Auch in Deutschland existieren Sprachinseln. Die nordwestliche reicht in die Niederlande hinüber, wo ebenfalls Friesisch gesprochen wird. Eine andere befindet sich im entgegengesetzten Teil, zwischen Spreewald und Lausitzer Bergland. Die dort lebenden rund 60 000 Sorben bilden das kleinste slawische Volk überhaupt. Zu DDR-Zeiten als Vorzeigeminderheit nach Kräften gefördert, fällt es ihnen in einer Region mit starker Abwanderung Richtung Westen zunehmend schwer, ihre Identität zu behalten. Dazu zählt auch die Pflege der Sprache, die in zwei Dialekte zerfällt: Das Niedersorbische ist dem Polnischen, das Obersorbische dem Tschechischen näher.

Noch ist die sorbische Kultur in der sächsischen Lausitz durchaus präsent: Alle Straßenschilder sind zweisprachig. Das mittelalterlich-pittoreske Bautzen, sorbisch Budyšin, etwa beherbergt sorbische Schulen und Hochschulen, einen sorbischen Verlag, ein sorbisches Theater und sorbische Museen und Kulturhäuser. Der größte Hoffnungsträger der heimischen Kultur aber sitzt in Dresden: Stanislaw Tillich ist seit 2008 Ministerpräsident des Landes Sachsen. Zu seinen Wurzeln bekennt der Politiker sich auf seiner Website: »Ich stamme aus Neudörfel, einem kleinen Dorf in der Oberlausitz. Dort wurde ich 1959 in einer sorbischen Familie geboren. Zu Hause sprachen wir nur sorbisch miteinander, das Deutsche lernte ich von unseren Nachbarn.« Sein Internetportal zierte lange die Überschrift »Stanislaw Tillich. Der Sachse«. Mit »Stanislaw Tillich. Der Sorbe« wäre schließlich nur eine unbedeutende Minderheit angesprochen gewesen.

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