Unstillbarer Durst nach Gerechtigkeit

Das wechselvolle Leben des Buchenwaldhäftlings Ernst Busse beschäftigt den Weimarer Heinz Koch seit über 60 Jahren.

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 8 Min.

Der Ettersberg. Natürlich wird Heinz Koch auch am Wochenende da sein. Der 85-Jährige hat es ja auch nicht so weit, wie viele andere, die an diesem 11. April an den 70. Jahrestag der Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald erinnern werden. Koch, selbst kein ehemaliger Häftling, wohnt schließlich in Weimar. Und ist dauernd da oben, wo es so eklig wehen kann Anfang April und wo Besuchern selbst im Hochsommer das Frösteln ankommt. Koch hat schon zu DDR-Zeiten in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte gearbeitet und macht bis heute Führungen an jenem Ort des Schreckens, in dem zwischen 1937 und 1945 mehr als 60 000 Menschen aus allen Ländern Europas von den Nazis ermordet wurden.

Über die Jahrzehnte hat Koch erfahren, wie die Zahl derer, die dieses Grauen miterleben mussten, bei Gedenkveranstaltungen geringer wurde - aber sich immer aufs Neue gefreut, dass die Anzahl interessierter junger Antifaschisten zunahm. Er war dabei, als vor 20 Jahren der ehemalige CDU-Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, insbesondere von Letzteren empörte Pfiffe erntete, als er nach westdeutscher Lesart die Geschichte umzuschreiben versuchte und kurzerhand die Befreiung des Lagers den Amerikanern andichtete. Er war auch dabei, als vor zehn Jahren der einstige Buchenwaldhäftling und spätere weltbekannte spanische Schriftsteller Jorge Semprun die Kraft des Widerstandes im Lager beschwor, die am 11. April 1945 darin mündete, dass die Häftlinge die übrig gebliebenen 200 SS-Leute gefangen nahmen und den von Eisenach heranrückenden US-Soldaten übergaben. Am 8. April hatten sie per selbstgebautem Funkgerät mit der Army Kontakt aufgenommen und die Antwort erhalten: »Haltet aus, wir kommen.«

Diesmal werden die Zeitzeugen noch weniger sein. Deshalb schreibt Koch sich mit seinen 85 Jahren immer noch die Finger wund. Auf seine Initiative hin entstand ein »Heimatgeschichtlicher Wegweiser« durch Thüringen, in dem Stätten von Widerstand und Verfolgung aufgelistet sind. Er verfasst Erinnerungen an Ex-Häftlinge, die er kennengelernt hat und mit denen ihn zum Teil eine lange Freundschaft verbindet oder verband. Und er erinnert an jene, die schon lange nicht mehr dabei sein können bei den Jahrestagen.

Besonders hat Koch das wechselvolle Leben von Ernst Busse beschäftigt. Und das nicht nur, weil er als 16-Jähriger den Kommunisten und ehemaligen KZ-Häftling 1947 bei einer Parteiveranstaltung im Eichsfeld kennengelernt hat, wo Busse auf ihn einen »energischen«, »wortgewaltigen« und »erfrischenden« Eindruck machte. »Was für ein schlimmes Schicksal«, sagt Koch mit bewegter Stimme noch heute. Und das meint viel mehr, als man in Buchenwald erwarten könnte.

Doch von vorn. Der 1897 geborene und 1932 in den Reichstag gewählte KPD-Funktionär Ernst Busse, der wegen Vorbereitung zum Hochverrat nach einer Flugblattaktion von den Nazis 1934 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, saß ab 1937 im Konzentrationslager Buchenwald und war dort der deutsche Vertreter und einer der wichtigsten Köpfe des illegalen Lagerkomitees - Blockältester, zweiter, später erster Lagerältester und ab 1942 »Kapo« im Krankenbau. »Alle Funktionen hatte er auf Anraten der leitenden Genossen der KPD im Lager übernommen«, schreibt Koch in einem Essay. Es ist der Versuch, gegen die nach 1989 wieder neu aufgeflammte Diskussion über die »roten Kapos« anzuschreiben, die angeblich gemeinsame Sache mit der SS gemacht hätten.

Natürlich waren die Aktionen von Kommunisten und Sozialdemokraten ein schmaler Grat - und freilich ist nicht jeder Einzelne damit klargekommen. Dass es jedoch - nicht selten unter Einsatz des Lebens - um die Übernahme von Verantwortung im Interesse der Häftlinge ging, wird bei dieser Diskussion geflissentlich ausgeblendet oder gar geleugnet. Die Alternative wäre gewesen, den kriminellen Häftlingen den KZ-Alltag samt Kameradendiebstahl, Misshandlungen und Schwarzhandel - wie in anderen faschistischen Lagern üblich und von der SS durchaus beabsichtigt - zu überlassen.

Auf dem Ettersberg gab es nur im Krematorium einen Kapo mit kriminellem Hintergrund. »Buchenwald«, sagt Koch, »war das einzige Lager, wo die roten Winkel schon 1942 gegen die grünen Winkel gesiegt hatten«. Das bringt den Kampf der politischen Häftlinge im Untergrund gegen die kriminellen Häftlinge um alle wichtigen Lagerfunktionen auf einen kurzen Nenner. Und Busse wie seinen Mitstreitern gelang, mitten im Zentrum von bestialischer Unterdrückung, Mord und Erniedrigung politische Arbeit bis hin zur Selbstbewaffnung zu organisieren und insbesondere im Krankenbau einen ganzen Stab von zuverlässigen politischen Häftlingen einzusetzen - und durch deren medizinische Hilfe, die sie in jeder freien Minute Stück für Stück erlernen mussten, hunderten Leidensgenossen durch stationäre Aufnahme oder über den Status als vorübergehende »Schonungskranke« das Leben zu retten. Dass dies der SS nicht verborgen geblieben war, zeigt die Tatsache, dass Busse zu den 46 prominenten Häftlingen gehörte, die sich am 6. April 1945 am Lagertor melden sollten, um dem Widerstand die Spitze zu nehmen - aber allesamt von Mithäftlingen versteckt wurden und somit am Leben blieben.

Doch das von Heinz Koch benannte schreckliche Schicksal fand auch nach der KZ-Zeit für Ernst Busse kein Ende. Wahrscheinlich hat der junge Genosse den älteren ja nur in einer sehr kurzen glücklichen Phase im Eichsfeld erlebt. Damals, als Busse zunächst in Weimar politisch aktiv und wenig später stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister im Land Thüringen war - und als KPD- und späteres SED-Mitglied voller Träume und Ideen für den Aufbau einer besseren Welt steckte. Denn schon bald wurde der Kommunist wie das gesamte internationale Lagerkomitee von zwei ehemaligen Häftlingen denunziert, und ab 1947 »Spielball« in den Auseinandersetzungen innerhalb der SED als auch im aufkommenden Kalten Krieg zwischen West und Ost. Zunächst wurde Busse zur Zentralverwaltung für Land- und Forstwirtschaft abgeschoben, später noch weiter in die politische Bedeutungslosigkeit verbannt - als Präsident der Raiffeisengenossenschaft.

Da liefen längst die Untersuchungen der Parteikontrollkommission gegen ihn - und offensichtlich waren seine deutschen Genossen nicht von allein auf den Gedanken gekommen. Heinz Koch schreibt in seinem Essay: »Am 13. September 1948 gab es eine Vernehmung Busses durch sowjetische Dienste, in deren Mittelpunkt die Behandlung russischer Häftlinge im Krankenbau von Buchenwald stand. In den folgenden Jahren begannen in der Sowjetischen Besatzungszone Vorbereitungen für einen großen politischen Prozess. Wie in der CSR und anderen osteuropäischen Ländern sollte nach dem Willen Stalins und seiner Helfer eine generelle Parteireinigung stattfinden. Zu den ersten Opfern gehörte Ernst Busse.«

Der traurige Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Ende März 1950 wurde Busse zur SMAD nach Karlshorst bestellt und vom NKWD verhaftet. Ende Februar des folgenden Jahres verurteilte ihn das Militärtribunal der Garnison des sowjetischen Sektors von Berlin als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft - auf der Basis von Zeugenaussagen durch einstige Häftlinge, die den grünen Winkel trugen. Am 29. August 1952 starb der 52-jährige Kommunist in Workuta. Und das - nicht Ironie, sondern Tragödie der Geschichte - in den Armen eines ehemaligen SS-Mannes, der im KZ Sachsenhausen als »eiserner Gustav« sein Unwesen getrieben hatte.

Warum beschäftigt sich ein 85-jähriger ehemaliger Industriekaufmann und Parteiarbeiter mehr als 60 Jahre später immer wieder mit Geschichten, die sein Herz schwer machen? Die Antwort von Heinz Koch hat mehrere Teile. Da ist zum einen ein unstillbarer Durst nach Gerechtigkeit, den er seit früher Kindheit sein Eigen nennt. Dann ist da der frühzeitige Kontakt in Familie und Bekanntenkreis mit Mitgliedern der KPD/O, einer Abspaltung von der KPD, die bekanntlich schon in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts die stalinistische Entwicklung in der Sowjetunion und in der KPdSU kritisch hinterfragte. Und dann ist da zum dritten eine Episode, die Koch zeit seines Lebens nicht vergessen hat. Zu Weihnachten 1945 klopfte ein Sowjetsoldat an der Tür zum Häuschen seines Großvaters im Eichsfeld. Der Mann wurde hereingebeten und bekam einen Schnaps eingeschenkt. Es war schließlich die erste Friedensweihnacht. Der 15-jährige Enkel Heinz, der nach eigener Aussage gerade begonnen hatte »sich mit Stalin anzufreunden«, wies stolz auf eine auf dem Tisch liegende Ausgabe der »Täglichen Rundschau« mit einem Stalinporträt auf der Titelseite. Und was sagte der Gast? »Stalin, Hitler - alles Scheiße.«

Koch ist nicht nur dieser Satz immer wieder im Kopf herumgeschwirrt. Er hat sich zeit seines Lebens mit Geschichte beschäftigt - aber, so sagt er, immer wieder auch kritisch hinterfragt, was ihm zu bestimmten Zeiten als Geschichte angeboten wurde. Gepaart mit dem schon erwähnten Gerechtigkeitssinn, hat er deshalb um das Ansehen Ernst Busses gekämpft. Das war nicht ganz ohne in der DDR - und auch nicht nach ihrem Ende. In den 70er Jahren jedenfalls holte sich Koch Verbündete beim Buchenwaldkomitee, um zu erreichen, dass eine Straße in Weimar Busses Namen erhielt. Nach deren Zustimmung war auch der Erste Kreissekretär der SED dafür - und in einem Neubaugebiet der Dichterstadt wurden die neuen Schilder angeschraubt.

Beinahe wären sie den Denkmalsstürmern Anfang der 90er Jahre zum Opfer gefallen. Doch Koch - er hatte sich damals namens der VVN - Bund der Antifaschisten offiziell beim Stadtrat dafür starkgemacht, dass die Namen von Widerstandskämpfern nicht aus Weimar verschwinden - erklärte den Bürgerrechtlern, dass es sich bei Ernst Busse nicht nur um ein Opfer der Nazis handelt, sondern auch um ein Opfer des Stalinismus. So hat Weimar seine Ernst-Busse-Straße behalten. Und das ist allemal mehr wert, als dessen »stille« Rehabilitierung durch die SED in den 70ern und seine öffentliche durch die PDS Anfang der 90er.

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