Katholizismus und RAF

Frank Witzel stellte sein neues Buch in der AdK vor

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Bei Kulturveranstaltungen in Berlin geht es in jeder Hinsicht anders zu als in den anderen Städten. Zum Beispiel muss man für gewöhnlich ein Baustellenlabyrinth durchkreuzen, um zum Veranstaltungsort zu gelangen. Hier darf man aber auch mit dem alten, braunen Baumwoll-Turnanzug und ausgewaschenem, über dem gewölbten Bauch spannendem T-Shirt in gediegenem bürgerlichen Ambiente Platz nehmen. In Frankfurt am Main z. B. käme die betreffende Person nicht einmal in die Nähe des Veranstaltungssaals - da wären die Ordner unerbittlich; auf ein gepflegtes Äußeres ist zu achten!

Am Pariser Platz, dort wo zwischen dem Hotel Adlon und der US-Botschaft der Glaspalast der Akademie der Künste (AdK) eingebaut wurde, durfte am Mittwochabend auch der Herr im Ausgehanzug für Eckkneipensteher rein. Das Thema des Abends: eine Buchpremiere. Frank Witzel, Schriftsteller, Plattenaufleger, Musiker und Zeichner, wohnhaft in Offenbach am Main, las aus seinem neuen Buch «Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969» (Verlag Matthes & Seitz) vor.

Dass Witzel für dieses Roman-Projekt schon vor drei Jahren mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Landes Hessen ausgezeichnet wurde, war gut zu wissen, um nicht überrascht zu werden. Gernhardt war ein begnadeter Satiriker und ein sprachmächtiger Schriftsteller (was man nicht mit wortmächtig gleichsetzen sollte!). Witzel hat das Preisgeld für ein 800-Seiten-Werk angelegt, dessen Titel aber in die Irre führt. Wer erwartet, hier würden Geheimnisse über die Entstehung des Terrors der RAF gelüftet, irrt. Ein Buch über die RAF? Eher wohl ein Werk über Sprache, Wortfindungen, Nietzsche, Hegel, Religion, den Sexualtrieb und seine Sublimation durch die Flucht in die Depression oder den Linksextremismus - oder in beides.

Jedes Wort im Titel ist eine Geschichte für sich. Der «Erfindung» zum Beispiel werden im Buch mehrere Kapitel zur «Erfindung der Freundlichkeit» gewidmet. Man denkt als historisch geschulter Zeitgenosse hierbei unweigerlich an das Buch «Die Diktatur der Freundlichkeit». Auch darin ging es übrigens nicht um die RAF. Wie auch: Die RAF war sicherlich vieles, auch diktatorisch, freundlich aber war sie nicht. Das Buch von 1985 setzte sich mit den esoterischen Sekten auseinander, die, wie es im Untertitel hieß, «Lieferanteneingänge zum wohltätigen Wahnsinn» versprachen.

Wie viel vom Autor Witzel in der Figur des Ich-Erzählers des Buches steckt, wollte der Moderator des Abends, Ingo Schulze, wissen. Ein wenig schon, antwortete Witzel, aber eben dies auch nur in der Phantasie des Schreibers, der sich beim Schreiben in eine eigene Welt begibt. Und die ist in diesem Fall eine Verarbeitung seiner katholischen Traumaerfahrung. Man beginnt an diesen Stellen des Buches, aus denen Witzel vorlas, zu ahnen, was das bedeutet: Um dem alptraumhaften Wahnsinn zu entgehen, ist es ganz hilfreich, sich in die Kunst retten zu können.

Er habe als Kind Pfarrer werden wollen, offenbart sich der gebürtige Dresdner Protestant Schulze. «Wie alt warst Du da?, fragte der gebürtige Wiesbadener Katholik Witzel. Schulze: »16«. Da kann Witzel nur schmunzeln. »Ich war 10«. Und natürlich wollte er Priester werden. Wenn schon Flucht vor der Welt, dann richtig!

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