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Auf beiden Seiten der Front

Der Zweite Weltkrieg tobte nicht nur in Europa

  • Diethelm Weidemann
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine weitere Verzerrung der Geschichte ist bislang ohne Widerhall geblieben - die Betrachtung des Zweiten Weltkrieges als Krieg in Europa mit Beteiligung der USA, aber nicht als Weltkrieg im buchstäblichen Sinne. Dabei sind auch Hunderte Millionen Menschen in Asien in den Krieg hineingezogen worden und auch dort Millionen Menschen ums Leben gekommen. Fern von el Alamein vollzogen sich während des Krieges Entwicklungen, die nicht nur die Nachkriegszeit in Asien prägten, sondern auch Nachwirkungen in der Gegenwart zeitigen.

Die eurozentristische Sicht blendet zugleich ein Phänomen völlig aus, das dem zweiten großen Kriegsschauplatz seine Spezifik verlieh, nämlich die Tatsache, dass starke nationale Kräfte in einer Reihe asiatischer Länder auf beiden Seiten der Konfrontation standen - auf jener der eigenen Kolonial- bzw. Protektoratsmacht gegen deren Gegner (Malaya, Philippinen, Mainstream-Parteien in Indien) als auch auf der Seite Japans gegen die Kolonialmacht (Burma, Indonesien, radikaler Flügel der indischen Nationalbewegung um Subhas Chandra Bose). Die Ursachen dafür waren vielschichtig und komplex, man kann dennoch einige wirkungsmächtige Aspekte benennen.

Erstens die Fortsetzung der Kolonialpolitik nach Ausbruch des Krieges. Ihre Charakteristika waren die Verschärfung der wirtschaftlichen und finanziellen Ausbeutung; die Zurückweisung des Angebots von Nationalbewegungen wie des Indian National Congress für die Gewährung des Rechts auf Selbstregierung alle Kräfte zum Kampf gegen den Faschismus zu mobilisieren; und die Verschärfung der politischen Repression seitens des Kolonialregimes beispielsweise in Burma und Malaya.

Das Beharren auf längst von der Geschichte ad absurdum geführten kolonialistischen Positionen - wenige Tage vor dem Fall Javas im März 1942 tönte Radio Batavia: »Unsere Streitkräfte verteidigen energisch die Verpflichtung des weißen Mannes, die unterworfenen Rassen zu schützen« - öffnete letztlich der antikolonialen Propaganda der Achsenmächte Tür und Tor.

Zweitens die Einschätzung der Politik und Ziele der Achsenmächte, insbesondere von Tokios »Großostasiatischer Wohlstandssphäre«. Japan operierte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Slogan »Asien den Asiaten«, und die nationalistischen Kräfte in zahlreichen asiatischen Ländern hatten fasziniert den Aufstieg Japans zur Großmacht seit 1905 verfolgt. So entwickelte sich in Südostasien eine breite projapanische Stimmung; die schnellen japanischen Siege 1941/1942 wurden teilweise mit Befriedigung verfolgt.

Drittens hatte in Asien seit den 1920er Jahren die nationale Frage eine qualitativ neue Dimension erlangt. Sie war trotz aller Verfolgung und Unterdrückung zur zentralen politischen und ideologischen Frage geworden. Zugleich setzte sich die Erkenntnis durch, dass unter den Bedingungen der Fremdherrschaft die nationale Frage primär eine antikoloniale Frage ist und ihre Lösung den Kampf gegen eben diese Fremdherrschaft erfordert und voraussetzt. Dass die Kolonialmächte diesen untrennbaren Zusammenhang zwischen Antikolonialismus und Nationalismus nicht zur Kenntnis nahmen und nicht bereit waren, darauf politisch zu reagieren, hatte enorme Konsequenzen. Antikolonialer Nationalismus war eine historisch unvermeidbare Phase der nationalen Befreiungsbewegungen. Die heute nicht nur in den Medien, sondern auch im akademischen Bereich umgehende undifferenzierte Abwertung oder Dämonisierung jeglicher Befreiungsbewegungen als »bloß nationalistisch« kann nur als ahistorisch bezeichnet werden - wobei zugleich zu unterscheiden ist, dass Gebilde wie die UCK im Kosovo oder der »Rechte Sektor« in der Ukraine nichts, aber auch gar nichts mit einer nationalen Befreiungsbewegung gemeinsam haben.

Viertens resultierte aus der konkreten Entwicklung in Asien nach Kriegsausbruch und den genannten Faktoren, dass in Asien anders als in Europa der grundsätzliche Charakter des Zweiten Weltkrieges als antifaschistischer Befreiungskrieg nicht erkannt wurde; inwieweit er nicht erkannt werden konnte, ist eine andere Frage. Er wurde mit geringen Ausnahmen von den linken und nationalistischen Kräften als eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen zwei imperialistischen Staatengruppen betrachtet. Die Politik der Großmächte 1939 bis 1941 schien dieser Einschätzung Recht zu geben. Selbst der Indische Nationalkongress, der durch Jawaharlal Nehru den Charakter des Faschismus neu definiert und verurteilt hatte - »Wenn Faschismus und Nazismus die Welt beherrschen, wird Indiens Freiheit keine drei Groschen wert sein ...« - lehnte es ab, dass Indien als koloniales Anhängsel Großbritanniens am Krieg teilnahm.

Es lassen sich drei wesentliche Haltungen zum Krieg und zur japanischen Aggression in Südostasien ausmachen: Einerseits eine überwiegend beobachtende Position; das schloss einerseits die Teilnahme Hunderttausender indischer Soldaten in Nordafrika und Südostasien am Krieg in den Reihen der Indian Army und andererseits eine antifaschistische Position des Indischen Nationalkongresses nicht aus. Sodann sofortiger antijapanischer Kampf bedeutender Bevölkerungsteile (linke Kräfte und Chinesen) sowie gleichzeitige Kollaboration einflussreicher Schichten mit den japanischen Besatzern, z. B. in Malaya und auf den Philippinen. Und schließlich wären jene nationalistischen Gruppen zu nennen, die große Sympathie für die vordringenden Japaner zeigten und sie teilweise unterstützten, bis sie desillusioniert wurden und Widerstand leisteten, so in Burma und Indonesien. Spätestens seit der Jahreswende 1943/44 hatte Japan in der Bevölkerung der besetzten Länder keine wirkliche Basis mehr.

Der Zweite Weltkrieg veränderte die inneren und äußeren Existenzbedingungen der Völker Süd- und Südostasiens wesentlich, nachhaltig und qualitativ. Und zwar wirtschaftlich und sozial, politisch und psychologisch sowie hinsichtlich einer explosiven Entwicklung von Nationalismus, Nationalbewusstsein und Nationalbewegung.

Die Formen, die antikolonialer Widerstand und nationale Befreiungsbewegung im Zweiten Weltkrieg annahmen, resultierten aus dem jeweiligen Entwicklungsziel und dem Organisationsgrad der antikolonialen Kräfte und ihrer Haltung zu den japanischen Okkupanten: Der nichtbewaffnete Widerstand war charakteristisch für Indien, ein lokaler und regionaler Partisanenkrieg sowie der Versuch, nationale Einheitsfronten zu schaffen, wiederum für Burma, Malaya, Indonesien und die Philippinen. Der Guerillakrieg schlug in einen offen geführten antijapanischen Befreiungskrieg um, der am 27. März 1945 in Burma in einen allgemeinen nationalen Aufstand überging sowie am 15. August in Vietnam und am 17. August in Indonesien in eine nationale demokratische Revolution mündete. Dies geschah bereits vor dem Eintreffen alliierter Streitkräfte.

Die jeweilige soziale Basis und politische Zielsetzung des antikolonialen, antijapanischen und nationalen Befreiungskampfes sowie die konkreten Formen, die er in den einzelnen Ländern annahm, führten zu bemerkenswert unterschiedlichen unmittelbaren Ergebnissen, aber sie veränderten nicht nur in den betreffenden Ländern die Lage unwiderruflich, sondern in der gesamten Region. Damit war auch das strategische Konzept der traditionellen Kolonialmächte, das auf die Restauration der Kolonialherrschaft gerichtet war, zu Makulatur geworden.

Großbritannien erkannte, dass Indien und Burma nicht mehr lange zu halten waren, setzte auf Verhandlungen und versuchte Bedingungen zu schaffen, die bei Wahrung langfristiger britischer Interessen eine geregelte Machtübergabe an die einheimischen bürgerlichen Kräfte ermöglichten. London schätzte auch die Nachkriegsambitionen seines neuen Gläubigers USA in Asien richtig ein. Frankreich und die Niederlande waren jedoch nicht bereit, auf ihren kolonialen Herrschaftsanspruch zu verzichten und gewillt, diesen auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Das führte dazu, dass in wesentlichen Teilen Südostasiens der Zweite Weltkrieg ziemlich nahtlos in eine Reihe von Kolonialkriegen überging. Die Verfechter einer Wiederherstellung des Status quo ante erkannten nicht, dass nach dem Sommer 1945 in Asien eine dauerhafte Restauration der Kolonialherrschaft nicht mehr möglich war und im Gegenteil der Zerfall des Kolonialsystems begann.

Auch in Asien hallt der Zweite Weltkrieg nach. Ein Beispiel hierfür ist die Kritik Chinas und Südkoreas an der andauernden Leugnung der massiven Kriegsverbrechen Japans in japanischen Geschichtslehrbüchern. Aber weder der Verlauf des Krieges, noch seine Opfer und seine tatsächlichen Ergebnisse sind in der veröffentlichten Meinung Europas oder im Massenbewusstsein präsent. Das kann auch kaum überraschen, wenn selbst im linken Spektrum ein ausgeprägter Eurozentrismus grassiert.

Diethelm Weidemann ist emeritierter Professor des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

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