Stimmung des Vertrauens

Für die Regierung Alexis Tsipras’ waren das keine Flitterwochen. Eine Bilanz nach 100 Tagen SYRIZA im Amt

  • Petros Katsakos
  • Lesedauer: 7 Min.

Die ersten 100 Amtstage jeder neuen Regierung haben seit jeher einen besonderen Charakter - vor allem in Griechenland. Dass jede neue Regierung bei ihrem Amtsantritt »Chaos« übernimmt, hat hier eine lange Tradition. Insofern sind die ersten 100 Tage für jede neue Regierung von einer stillschweigenden Zurückhaltung der Opposition gekennzeichnet, sind normalerweise eine Art Flitterwochen und werden von den neu Regierenden für ihre wichtigsten Gesetzesvorhaben genutzt.

Der überwältigenden Mehrheit der Bürger ist klar: Die SYRIZA-geführte Regierung hat nach fünf Jahren, in denen die Konservativen der Nea Dimokratia und die Sozialdemokraten der PASOK das Land regierten, ein zerrüttetes Land übernommen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind verarmt, die griechische Mittelklasse aufgelöst, die traditionell als Rückgrat des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt galt.

»100 Tage SYRIZA« ist eine Kooperation von Rosa-Luxemburg-Stiftung und »neues deutschland«. Übersetzung der Texte: Kostas Tsanakas und Christina Emmanouilidou. Noch mehr Kommentare und Analysen finden Sie im Internet unter: www.rosalux.de/100-tage-syriza oder dasND.de/syriza

»Die Menschen werden keine 100 Tage warten müssen. Vom ersten Tag an wird unser Programm von Thessaloniki, das wir durch Eigenmittel finanzieren können, unabhängig vom Verlauf der Verhandlungen ganz normal zur Umsetzung gebracht«, hatte Nadia Valavani noch zwei Tage vor den Wahlen vom 25. Januar versprochen. Als stellvertretende Finanzministerin hat sie inzwischen ihre Unterschrift unter einen der ersten Gesetzentwürfe der SYRIZA-geführten Regierung gesetzt. Um die angeschlagene Wirtschaft wiederzubeleben, sollen Unternehmen und Bürger ihre Steuerschulden in 100 Ratenzahlungen tilgen können, gleichzeitig würden entsprechende Strafzinsen erlassen werden.

Die herrschende Not nahm der neuen Regierung den Luxus symbolischer Gesten. Vielmehr musste sie von Anfang an mit enormer Geschwindigkeit handeln - nicht nur aufgrund ihrer eigenen Wahlkampfversprechen, sondern vor allem, weil die Kreditverpflichtungen aus den von den Vorgängerregierungen geschlossenen Darlehensvereinbarungen sie dazu zwang.

Hauptgegenstand der Politik der ersten 100 Tage waren die Verhandlungen der SYRIZA-geführten Regierung mit ihren Gläubigern. Erklärtes Ziel war es dabei, mit der Zeit der Memoranden zu brechen und einen Wandel von der Austeritätspolitik hin zu einer Politik des Wachstums und der sozialen Gerechtigkeit zu erreichen. Laut Regierungskreisen aus Athen habe der Beschluss der Eurogruppe vom 20. Februar »den Rahmen für den Übergangszeitraum bis zum kommenden Juni für ein endgültiges Übereinkommen über die Umstrukturierung der Schulden und die Gestaltung eines neuen nationalen Plans für wirtschaftlichen Wiederaufbau und Wachstum geschaffen, der die Schulden nachhaltig gestalten wird«. Die SYRIZA-geführte Regierung wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass es ihr dabei um »eine Vereinbarung über neue Maßnahmen als Ersatz für jene, die im Rahmen der Memoranden geschlossen worden waren«, gehe und bestimmte »Grenzen und Angelegenheiten« »nicht verhandelbar« seien.

Vor wenigen Tagen betonte ein SYRIZA-Abgeordneter bei einer Mitgliederversammlung der Partei in Athen, der größte Vorteil von SYRIZA sei ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Und in der Tat begrüßt die Mehrheit der Griechen die Gesetzentwürfe der neuen Regierung wie jene zur Bewältigung der humanitären Krise, zur Bekämpfung der Korruption oder zur Wiederbelebung der Wirtschaft. Besondere Bedeutung hat dabei der Gesetzentwurf über den öffentlichen Sektor. Er zielt nicht nur auf den Abbau der Bürokratie, sondern sieht die Wiedereinstellung aller aus dem öffentlichen Dienst Entlassener vor. Das beträfe Lehrer, Putzfrauen, Schulwächter, Kommunalpolizisten ebenso wie die Beschäftigten des öffentlichen Fernsehens. Ihre Arbeitsverträge waren durch die Vorgängerregierung durch eine einfache Unterschrift aufgelöst worden. In den vergangenen zwei Jahren fanden sich so tausende Beschäftigte in den Reihen der Arbeitslosen wieder. Viele wehrten sich gegen die Entlassungen und setzten ihre Hoffnung auf Wiedereinstellung auf eine SYRIZA-Regierung.

Ein Beispiel dafür sind die 595 Putzfrauen des Finanzministeriums. Mit ihren symbolträchtigen roten Spülhandschuhen standen sie in der ersten Reihe und prangerten die gegen das Volk gerichtete Politik von Nea Dimokratia und PASOK an. Inzwischen wurde auch das Gesetz über die Wiederinbetriebnahme der öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt Griechenlands (ERT) verabschiedet. ERT war vor fast zwei Jahren von der damaligen Regierung geschlossen, 2925 Beschäftigte waren entlassen worden.

Viele Gesetzentwürfe der Regierung wurden von der Opposition erstaunlich milde aufgenommen. Wohl vor allem deshalb, weil sie - wie in den genannten Fällen - nicht den Mut hatte, dagegen zu stimmen.

Anders war es allerdings im Fall des Gesetzentwurfs des Justizministeriums zur Reform des Strafrechts- und Justizvollzugssystems. Er sieht den Ausschluss von Gefängnisstrafen für Minderjährige im Alter von 15 bis 18 Jahren vor, ebenso wie die Abschaffung von Hochsicherheitsgefängnissen, Maßnahmen zur schnelleren Entlassung von Häftlingen und Sondermaßnahmen für Kranke, Senioren und Behinderte in Haft.

Weil davon auch Savvas Xiros profitiert hätte, lief die Opposition gegen den Entwurf Sturm. Das bei einer Explosion verletzte Mitglied der Stadtguerillaorganisation »17. November« sitzt seit 2002 in Haft und leidet bis heute an den Folgen der schweren Gesundheitsschäden.

Doch nicht nur die Opposition lief Sturm, auch die USA waren verstimmt, galten doch viele Anschläge des »17. November« Angehörigen von US-Sicherheits- und Armee-Einrichtungen. Das war für Teile der griechischen Medien Anlass genug, um die jüngste Reise von Außenminister Nikos Kotzias nach Washington als äußerst belastet darzustellen.

Nahezu unbemerkt blieb deshalb, dass US-Außenminister John Kerry Griechenland wirtschaftliche Unterstützung mit einem Investitions- und Wachstumspaket zusagte. Damit reagierten die USA auf die Kontakte zwischen Athen und Moskau in jüngster Zeit. Gegenstand der Gespräche war dabei unter anderem ein Vertrag zwischen Griechenland und Gazprom über den Bau einer Gaspipeline von Russland nach Griechenland.

Anders als die USA scheint die Europäische Kommission gegenüber solchen Plänen keine besonderen Vorbehalte zu haben. Neben der Intensivierung der Kontakte nach Moskau, von denen sich Griechenland viel verspricht, startete die SYRIZA-geführte Regierung eine Initiative, um weitere Investoren aus Drittländern, und zwar hauptsächlich aus China, anzuziehen. Dafür spricht die Entsendung einer offiziellen Delegation unter Leitung des stellvertretenden Regierungspräsidenten Giannis Dragasakis in die Volksrepublik.

Die Politik der neuen Regierung rief jedoch nicht nur den Widerstand der Parteien hervor, die an den vorherigen Koalitionen beteiligt waren. Während dieser ersten 100 Tage wurde SYRIZA auch von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) harsch kritisiert. Für die KKE arbeitet die neue Regierung an nichts anderem als an einem neuen Memorandum mit den Gläubigern, und so demonstrierten KKE-Mitglieder in den vergangenen Wochen mehrmals auf den Straßen Athens gegen die Politik der Regierung.

Die letzte Demonstration in der griechischen Hauptstadt löste eine Anordnung der Regierung aus, welche die Kommunen des Landes dazu verpflichtete, ihre Überschüsse an staatliche Stellen und die Zentralbank des Landes zu übertragen, um ihren unmittelbaren Kreditverpflichtungen nachzukommen.

SYRIZA hat von der Vorgängerregierung eine beispiellose Situation geerbt. Die Gläubiger von Europäischen Stabililtätsmechanismus (ESM), Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) haben seit 2014 alle Tranchenzahlungen aus den sogenannten Rettungspaketen ausgesetzt. Es handelt sich dabei um Beträge, die ausschließlich für die Bedienung der Staatsschulden vorgesehen waren, während Griechenland weiterhin bei Fälligkeit für IWF-Anleihen sowie Zinsen und Raten an die EZB und den ESM zahlt.

Von Anfang an hat die SYRIZA-Regierung erklärt, sich dem Grundsatz der Bedienung der Staatsschulden verpflichtet zu sehen - allerdings nur, wenn dadurch Gehalt- und Rentenzahlungen, Zahlungen für Bildung, Verteidigung und öffentliche Bauvorhaben nicht gefährdet würden. Die Opposition hat die Regierung bezichtigt, mit der Übertragung von Geldern an die griechische Zentralbank das »Eigentums der Bürger« zu plündern. Vertreter vieler Kommunen sahen das jedoch anders und unterstützten die Anordnung, weil sie »es dem Land gestatten wird, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzugehen«.

Die ersten 100 Tage der Regierung von Alexis Tsipras waren sicherlich keine Flitterwochen. Auch wurde der parlamentarischen Mehrheit von SYRIZA und der rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen (ANEL) durch die Oppositionsparteien keine Schonzeit gewährt.

Der größte Unterschied allerdings zu allen ersten 100 Tagen aller vorherigen Regierungen seit 1974 ist ihre Akzeptanz und Unterstützung durch die große Mehrheit der Griechen - unabhängig davon, welcher Partei sie bei den Wahlen im Januar ihre Stimme gegeben hatten. Trotz aller Schwierigkeiten und Drohungen war das Leben in Athen und anderswo während dieser 100 Tage von einer Stimmung des Vertrauens zu einer Regierung geprägt, die gezeigt hat, dass sie dafür kämpfen wird, die Demokratie in ihr Ursprungsland zurückzubringen.

Der Autor ist freier Journalist in Athen.

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