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Burn-out-Gesellschaft wegstreiken

Beschäftigte der Charité stimmen sich auf Versammlung auf unbefristeten Arbeitskampf ein

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Begriff »Streik-Republik Deutschland« geistert seit Wochen durch die Öffentlichkeit. Am vergangenen Freitag bot sich eine gute Gelegenheit, dem Phänomen näher zu kommen. Das Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« hatte in die ver.di-Bundeszentrale geladen, um den an diesem Montag beginnenden Streik an Europas größtem Universitätsklinikum einzuläuten.

Rund 200 Menschen sind gekommen, darunter nicht nur Kollegen aus der Charité und der ebenfalls streikerfahrenen Tochtergesellschaft CFM, sondern auch streikende Angestellte der Post, Pflegebeschäftigte des Krankenhausbetreibers Vivantes, S-Bahner und Gewerkschafter von Telekom, Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), Daimler und Amazon. Der Berliner Landesvorsitzende der Linkspartei, Klaus Lederer, überbrachte Grüße ebenso wie Alexander Spies, der Fraktionsvorsitzende der Piraten im Abgeordnetenhaus. Beide versicherten den Streikenden die Solidarität ihrer Parteien.

Fakten zum Streik

Welche Folgen hat der Streik für Patienten?

Notfälle werden der Gewerkschaft ver.di zufolge trotz des Streiks behandelt. Die Leitstellen seien informiert, so dass Krankenwagen sofern möglich andere Kliniken anzusteuern. Geplante Operationen, etwa 200 pro Tag, fallen aus. Da Patienten meist zum Wochenende entlassen würden, leeren sich die Betten im Vorfeld, hieß es bei ver.di. Bis zu ein Drittel der gesamt rund 3000 Betten an den drei Standorten in Mitte, Wedding und Steglitz kann dann nicht neu belegt werden. Patienten können montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr bei Fragen die Hotline (030)450 550 500 anrufen.

Setzen die Pfleger die Gesundheit ihrer Patienten aufs Spiel?

»Ich gehe davon aus, dass die Klinikleitung der Charité alles in ihren Kräften stehende unternimmt, um die Auswirkungen des Streiks insbesondere auf die intensivmedizinische und die Notfallversorgung so weit wie möglich zu minimieren«, erklärte Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU). Das Berliner Arbeitsgericht sah die Sicherheit am Freitag gewährleistet und wies eine Klage der Charité ab. Die Klinik kündigte jedoch an, in Berufung zu gehen. Offenbar sah das Landesarbeitsgericht aber keine Eilbedürftigkeit, so dass über die Berufung erst zu Wochenbeginn entschieden wird. Ver.di betont seit langem, der Pflege-Alltag sei kritischer als der Ausstand. Pfleger berichteten von Überlastung, Stress und wachsender Angst vor Fehlern. 800 Mal füllten sie allein in diesem Jahr sogenannte Gefährdungsanzeigen aus, erklärte die Gewerkschaft.

Wie viele Mitarbeiter streiken - und was genau fordern sie?

Bereitschaft zum Streik haben der Gewerkschaft ver.di zufolge Mitarbeiter von mehr als 20 Stationen signalisiert. Pro Tag wird mit 500 bis 600 Teilnehmern an dem Arbeitsausstand gerechnet, am Dienstagnachmittag ist eine Demonstration angekündigt. Nach Wunsch der Beschäftigten sollen Quoten im Tarifvertrag Mindestbesetzungen regeln. Auf Intensivstationen etwa soll sich ein Pfleger maximal um zwei Patienten kümmern, auf Normalstationen maximal um fünf. Aktuell liege das Verhältnis je nach Station bei etwa 1:12.

Was spricht aus Sicht der Charité gegen den Streik?

Der Klinikleitung befürwortet nach eigenen Angaben mehr Personal in der Pflege, nicht jedoch eine starre Quote. Eine Planung nach Bedarf wird bevorzugt. Um die ver.di-Forderungen zu erfüllen, mangele es aber auch an Geld und dem nötigen Personal auf dem Arbeitsmarkt. 600 Pfleger müsse man einstellen, das koste 36 Millionen Euro pro Jahr. Im vergangenen Jahr erzielte die Klinik einen leichten Überschuss.

Wieso gibt es keinen Kompromiss?

Als »Nebelkerzen« bezeichnet ver.di Vorschläge der Charité, etwa zunächst 80 zusätzliche Kräfte einzustellen. Die Klinik sieht ihre Angebote ohnehin »im Vorgriff auf die erforderliche, bundeseinheitliche Lösung«. Das Thema werde auf dem Rücken der Charité ausgetragen.

Wie lange dauert der Streik?

Der Ausstand ist unbefristet. Jeder Streiktag kostet die Klinik laut Charité bis zu 500 000 Euro. dpa/nd

Das Bündnis für Personal, in dem Charité-Beschäftigte gemeinsam mit Unterstützern seit 2013 die Auseinandersetzung um eine tarifliche Regelung von personeller Mindestbesetzung begleiten, wollte »über Hintergründe des Streiks informieren und Möglichkeiten zur solidarischen Unterstützung während des Streiks aufzeigen«. Doch die Veranstaltung war auch ein starkes Bekenntnis für die grundsätzliche Notwendigkeit öffentlicher Daseinsvorsorge und guter Arbeitsbedingungen.

Wie der zuständige Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel betonte, sei die Auseinandersetzung an der Charité ein exemplarischer Kampf »gegen die Burn-out-Gesellschaft«. Denn: »Wenn wir erfolgreich sind, dann folgen uns andere so sicher wie das Amen in der Kirche.« Kirsten Schubert, Ärztin vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), wies die Behauptung der Arbeitgeber, der Streik würde auf dem Rücken der Patienten ausgetragen, als »absolute Frechheit« zurück. Schließlich bedrohe der Normalzustand, die chronische Unterbesetzung also, die Patientensicherheit und nicht ein Streik für mehr Personal. Würden sich die Krankenschwestern und Pfleger durchsetzen, könnten alle Beschäftigtengruppen der Charité und die Patienten profitieren, sagte Schubert.

An ihrer Streikbereitschaft haben die Pflegekräfte zuletzt keinen Zweifel gelassen. Einem Aufruf zum 48-stündigen Warnstreik Ende April waren bereits 500 Kollegen gefolgt. In der darauffolgenden Urabstimmung hatten sich 96 Prozent der ver.di-Mitglieder für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Carsten Becker, Vorsitzender der verdi-Betriebsgruppe an der Charité, kündigte an, der Streik werde »gewaltig sein«. »Wir haben über 1100 Betten zum Streik angemeldet. 26 Stationen und Teilbereiche werden komplett geschlossen«, kündigte Becken an.

Bemerkenswert ist auch die Mobilisierung unterschiedlichster Unterstützer, die am Freitagabend gekommen sind. Neben Gewerkschaftern und Parteienvertretern reichte das Spektrum vom Kinderhilfswerk Terre des Hommes über das Bündnis Mietenvolksentscheid bis zum Hamburger Schauspieler Rolf Becker.

Der Kampf um die öffentliche Meinung - dessen waren sich die Anwesenden bewusst - wird nun beginnen. Die Charité ist bereits in den Ring gestiegen und hat die Kampagne »Streik ist keine Lösung« gestartet sowie eine Hotline für Beschwerden geschaltet. »Die Arbeitgeberseite wird alles versuchen, große Konflikte zu produzieren«, warnte Meike Jäger, die ver.di-Verhandlungsführerin in der Tarifauseinandersetzung. Gewerkschaft und Bündnis halten dagegen, unter anderem mit einer Demonstration am Dienstag um 15.30 am Standort Mitte.

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