»Heißt es nicht ..., wir seien ein surrealistisches Land?«

Juan Pablo Villalobos fängt in »Quesadillas« Mexikos Mythen ebenso wie seine soziale Wirklichkeit ein

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 1973 in Guadalajara geborene und heute im spanischen Barcelona lebende Juan Pablo Villalobos schreibt pointierte, minimalistische Romane, in denen er sich auf eigenwillige Art mit der mexikanischen Zeitgeschichte auseinandersetzt. In seinem Debüt »Fiesta in der Räuberhöhle« erzählte er die Geschichte des mexikanischen Drogenkriegs aus der Perspektive eines kleinen Jungen, dessen Vater ein Drogenkartell befehligt. Ins Zentrum seines neuen Romans »Quesadillas« stellt Juan Pablo Villaobos wieder einen Jungen. Der Teenager Orest lebt mit seiner Familie in den 80er Jahren während der mexikanischen Schuldenkrise in einer kleinen Hütte am Rand eines Provinzortes im trockenen, zum Teil wüstenartigen Norden Mexikos. Wie gut oder schlecht es der Familie geht, bemisst sich an der Größe und der verfügbaren Anzahl der Titel gebenden »Quesadillas«, der typisch mexikanischen Käseteigtaschen. Denn alle sind immer hungrig. Die Bruchbude, in der die Familie mit sechs Kindern lebt, »eine Art Schuhkarton mit Asbestdeckel«, wie es heißt, steht auf einem Hügel mit dem vielsagenden Namen »Cerro de la Chingada«, auf Deutsch so viel wie »verfickter Scheißhügel«.

Als im Ort plötzlich eine Revolte ausbricht, Barrikaden auf den Straßen brennen und Orests Vater seine vor Fäkalausdrücken nur so strotzenden Schimpfkanonaden auf die mexikanischen Politiker loslässt, wird klar: Hier befindet sich einiges im Umbruch. Nur hat der Wandel für die Hügelbewohner weniger mit der Revolte im Ortszentrum zu tun als vielmehr mit einer betuchten Familie, die in die unmittelbare Nachbarschaft zieht und dort eine vergleichsweise noble Behausung aus dem Boden stampft. Sie bleiben nicht die einzigen, die sich am Stadtrand ansiedeln. Bald wird aus dem »Cerro de la Chingada« ein Neubauviertel mit dem wohlklingenden Namen »Olymp«.

Die neuen Nachbarn wollen die bisherigen armen Bewohner natürlich so schnell wie möglich loswerden. Da trifft es sich gut, dass Orests Familie das ehemalige Gemeindeland, das jetzt veräußert wird, einst besetzte und über keinen Pachtvertrag verfügt. Schließlich wird ihr wenn auch einfaches, aber doch geliebtes Haus von Baggern dem Erdboden gleichgemacht. Da hilft selbst die Solidarität der anarchistischen Kleinstadtrevolutionäre nichts. Den Showdown gewinnen Staatsgewalt und Immobilienverwerter.

Villalobos erzählt seine Geschichte mit viel Wortwitz und charmanter Ironie. Der junge Orest, der immer wieder aus Emiliano Zapatas Rede »An die betrogenen Völker« zitiert, büxt schließlich zusammen mit seinem älteren Bruder von zu Hause aus, und die beiden machen sich auf die Suche nach ihren verschwundenen Zwillingsgeschwistern, die angeblich von Außerirdischen entführt worden sein sollen.

»Passierten uns nicht ständig sonderbare, fantastische Dinge? Sprechen wir nicht mit den Toten? Heißt es nicht überall auf der Welt, wir seien ein surrealistisches Land?«, fragt der jugendliche Erzähler.

Der gerade einmal 130 Seiten lange Roman bietet ebenso eine Coming of Age-Geschichte wie ein sozialrevolutionäres Drama in der mexikanischen Provinz und ein postmodernes Science-Fiction-Märchen inklusive Raumschiffen.

Juan Pablo Villalobos legt mit »Quesadillas« eine literarisch dichte Erzählung mit Elementen des magischen Realismus vor und fängt damit ebenso Mexikos Mythen wie seine soziale Wirklichkeit ein.

Juan Pablo Villalobos: Quesadillas. Roman. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Berenberg. 142 S., geb., 22 €.

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