Türkei: HDP wirft Erdogan und Davutoglu Kriegstreiberei vor

Angriffe auf linke HDP und »Hürriyet« / Banden von Erdogan-Anhängern greifen Parteibüros und Zeitung an und skandieren »Gott ist groß« / Regierung blockiert offenbar wieder Twitter

  • Lesedauer: 5 Min.

Update 11.15 Uhr: HDP wirft Erdogan und Davutoglu Kriegstreiberei vor
Nach gewalttätigen Protesten türkischer Nationalisten gegen Kurden hat die Kurdenpartei HDP der Staatsführung in Ankara Kriegstreiberei vorgeworfen. Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hätten »eine Entscheidung für den Bürgerkrieg gefällt«, sagte HDP-Chef Selahattin Demirtas am Dienstag in einer von mehreren Internet-Medien live übertragenen Stellungnahme im südostanatolischen Diyarbakir. Er sprach von Lynchversuchen, die mit staatlicher Hilfe und Unterstützung der Regierung gestartet worden seien.

In der Nacht hatten Nationalisten in mehreren Städten der Türkei gegen die jüngsten Gewaltaktionen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) demonstriert und dabei kurdische Geschäfte und HDP-Vertretungen angegriffen. Die HDP-Zentrale in Ankara ging in Flammen auf. Demirtas warf den Behörden vor, die Einrichtungen seiner Partei nicht gegen den Mob geschützt zu haben. An die Gewalttäter gewandt fügte er hinzu, seine Partei verfüge über genügend Aufnahmen von Überwachungskameras und andere Beweismittel und werde rechtlich gegen sie vorgehen.

Demirtas warf Erdogan und Davutoglu vor, bei der bevorstehenden Parlamentsneuwahl am 1. November mit allen Mitteln einen Sieg der bisherigen Regierungspartei AKP erzwingen zu wollen. Die AKP hatte bei der regulären Wahl im Juni ihre absolute Mehrheit der Sitze im Parlament nach mehr als zwölf Jahren Alleinregierung verloren.

Angriffe auf linke HDP und »Hürriyet«

Berlin. In der Türkei verschärft sich die Lage vor dem Hintergrund des Vorgehens der Regierung gegen Linke und Kurden sowie gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Angeheizt von der Regierung und Staatschef Recep Tayyip Erdogan griffen Banden von Anhängern die Zentrale der linken Partei HDP in Ankara sowie Büros der Partei in anderen Landesteilen an. Auch die Redaktion der Zeitung »Hürriyet« in Istanbul wurde erneut belagert.

Dutzende nationalistische Türken marschierten in der Hauptstadt Ankara Zentrale der Partei der Demokratie der Völker (HDP), wie Bilder des Fernsehsenders CNN-Türk zeigten. Sie warfen mit Steinen und rissen das Parteizeichen an dem Gebäude ab. »Unsere Zentrale wird angegriffen, aber die Polizei erfüllt nicht ihre Pflicht«, hieß es in einer Mitteilung der HDP über den Kurznachrichtendienst Twitter. Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP sah Rauch über dem Gebäude aufsteigen. Die Polizei trieb die Angreifer schließlich auseinander.

In den sozialen Netzwerken veröffentlichte Fotos zeigten, dass einige Büros vollständig ausbrannten. In der südtürkischen Stadt Alanya wurde der örtliche HDP-Sitz in Brand gesetzt, wie CNN-Türk berichtete. In mindestens sechs weiteren Städten hätten Demonstranten HDP-Büros beschädigt. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir nannte sogar eine weit höhere Zahl: Mindestens 128 lokale Parteibüros der HDP seien seit gestern angegriffen worden. Er sprach von einer »Schande«.

Die von dem Regime in Ankara angestifteten und wohl auch unterstützten rechten Gruppen greifen die HDP unter anderem mit dem Vorwurf an, der politische Arm der verbotenen PKK zu sein. Die HDP weist dies zurück. Sie hatte bei der Parlamentswahl im Juni als erste linke und religiös sowie ethnisch offene Partei den Sprung über die Zehnprozent-Hürde geschafft. Auch wegen ihres Wahlerfolgs verlor die Regierungspartei AKP nach zwölf Jahren ihre absolute Mehrheit.

Daraufhin hatte Erdogan mit massenhaften Verhaftungen von Linken und Kurden sowie Angriffen gegen die PKK im Land sowie im Nordirak eine Situation der Spannung geschaffen, die seine Chancen bei Neuwahlen am 1. November erhöhen sollen. Auch der die Waffenruhe zwischen der türkischen Regierung und der PKK ist Ende Juli gebrochen, seither liefern sich Sicherheitskräfte und Rebellen täglich Gefechte mit vielen Toten. Hunderte Menschen wurden verhaftet, Beobachter sprachen von einer Atmosphäre der offenen Verfolgung von Linken und Kurden in dem Land.

Am Sonntag hatte die PKK ihren schwersten Angriff seit Mai 1993 verübt: Im südtürkischen Daglica in der Nähe der irakischen Grenze töteten die Rebellen bei einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi 16 Soldaten und verletzten sechs weitere. Bei einem weiteren PKK-Anschlag in der östlichen Region Igdir wurden am Dienstag 13 Polizisten getötet.

In Istanbul belagerten am Dienstag Anhänger der islamisch-konservativen Rechtspartei AKP erneut auch die Redaktion der »Hürriyet«. Zunächst hätten sich etwa hundert Menschen vor dem Gebäude versammelt und den Namen von Staatschef Erdogan sowie »Gott ist groß« gesungen, berichtete die Zeitung auf ihrer Website. Dann hätten sie das Redaktionsgebäude mit Steinen beworfen und dabei Scheiben eingeschlagen. Die Demonstranten verschafften sich laut »Hürriyet« gewaltsam Zutritt zu dem Gebäude. Die Polizei habe die Demonstranten zurückgedrängt.

Bereits am Sonntagabend hatten etwa hundert AKP-Anhänger das Redaktionsgebäude gestürmt. Auslöser war offenbar eine Twitter-Meldung der »Hürriyet« über eine Äußerung Erdogans über eine fehlende absolute Mehrheit. Die Zeitung stellte in ihrem Tweet diese Äußerung in Zusammenhang mit einem PKK-Angriff auf türkische Soldaten.

Erdogan hatte in der Vergangenheit wiederholt die Mediengruppe Dogan kritisiert, zu der »Hürriyet« gehört. Die Angriffe auf die Zeitung erfolgten inmitten wachsender Sorge über Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei. Internetnutzer berichteten in der Nacht zum Mittwoch, sie hätten keinen Zugriff auf Twitter. Die türkische Regierung hatte den Kurznachrichtendienst in der Vergangenheit wiederholt blockiert. Beobachter sehen die Entwicklung in der Türkei mit wachsender Sorge und kritisieren die europäischen Regierungen, nicht genügend gegen die grassierende Rechtsentwicklung in dem Land zu tun. Agenturen/nd

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