Schwerter zu Schwertern

Die NVA verschwand, ihre Waffen vagabundieren durch die Welt

  • René Heilig
  • Lesedauer: 8 Min.

Anfang Oktober 1990 wurde dem NVA-Offizier Günter Jehmlich vom 7. Mot.-Schützenregiment »Max Roscher« befohlen, sich nach Dresden zu begeben. Dort würden die neuen Chefs warten, die solle er ins Objekt nach Marienberg bringen. Der Marienberger Bus fuhr leer zurück, die 19 abzuholenden Bundeswehroffiziere waren selbstverständlich mit ihren privaten Autos in den Osten gekommen. In der Marienberger Kaserne hatten sich die alten Befehlshaber aufgebaut. Man stellte einander vor: Körper straffen, Name, Dienstgrad, Dienststellung ... Schweigen. Es wurde Mitternacht, die Neuen stimmten das Deutschland-Lied an. Wie in allen Ostkasernen zog Punkt 24 Uhr die Wache in neuer Uniform auf.

Die Nationale Volksarmee war Geschichte, die Bundeswehr für die Masse der Soldaten keine Perspektive. Die wenigen, die blieben, brabbelten, dass sie der Bundesrepublik Deutschland treu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer verteidigen wollten.

Im Grunde ist damit die ganze deutsche Militärgeschichte jener Jahre erzählt. Von 600 000 deutschen Soldaten behielt man 370 000. Wer heute über die Armee der Einheit faselt, fantasiert. Die sollte es nie geben - es hat sie nie gegeben.

Es gab beim organisierten Überlaufen zum Feind nicht einen einzigen Schuss. Dabei gab es davon viele Millionen Stück - von der Pistolenpatrone bis zu schweren Granaten. Laut dem noch immer nicht veröffentlichten »Bericht der Bundesregierung über den Abschluss der Verwertung des überschüssigen Materials der ehemaligen NVA« vom 31. Juli 1997 hatte man 303 690 t Munition der DDR-Streitkräfte zur Entsorgung übernommen. Das Erbe allerdings war weit größer, 98 440 t hat man an andere Länder verkauft oder verschenkt. Dazu addieren sich noch 12 521 t Munition aus dem Bereich der einstigen Volkspolizei.

Kein Zweifel, die Bundeswehr hatte mit dem Erbe viel Arbeit. Und gekostet hat die Einheit so einiges. Unterm Strich standen zum Thema NVA-Abwicklung rund 1 415,8 Millionen D-Mark Minus in den Büchern. Was sich sicher wieder ins Positive kehrt, wenn man all die übernommenen Liegenschaften, Lazarette und Heime gegenrechnet. Doch das hat nie jemand gemacht, es wäre ohnehin unwichtig gewesen.

Zur Sicherung der Waffen- und Munitionsbestände konzentrierte man alles in rund 150 Lagern. Flugzeuge und Hubschrauber stellte man auf drei Flugplätzen ab, Schiffe und Boote sammelte man in drei, später zwei Häfen, Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie an acht bewachten Orten.

Doch das Erbe kam der nun größeren Bundesrepublik auch sehr gelegen. Man erfüllte durch die Aussonderung des NVA-Militärmaterials jene deutschen Verpflichtungen, die sich aus den Wiener Beschlüssen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa ergaben. Im Einzelnen umfasst die Reduzierungsverpflichtung 140 Kampfflugzeuge - davon 140 aus NVA-Beständen, 2566 Kampfpanzer - davon 1914 aus NVA-Beständen, 4257 gepanzerte Kampffahrzeuge - davon 4145 aus NVA-Beständen, 1632 Artilleriewaffen - davon 1344 aus NVA-Beständen. Man erfüllte die Wiener Vorgaben zudem nicht nur termingerecht Mitte November 1995, sondern bereits am 23. Mai 1995.

Jüngst, bei der Vorstellung der fast 1000-seitigen Biografie des Altkanzlers Gerhard Schröder, hörte man viel von der Golf-Kriegsverweigerung seiner rot-grünen Regierung. Ganz so zurückhaltend war die denn doch nicht. Neben der Rolle als Logistikdrehscheibe erfüllte Deutschland seine NATO-Funktion als Rüstungslieferant. Dank des NVA-Materials. Die Lieferungen erfolgten bis Ende 1991, da war der US-geführte Krieg gegen Irak schon längst beendet.

Die umfangreichsten Materiallieferungen gingen an die USA. Es handelte sich vor allem um ABC-Schutztechnik und Pioniergerät. Wo das geblieben ist, weiß keiner der Lieferanten. Auch Frankreich und Ägypten erhielten als Mitglieder der Anti-Irak-Koalition NVA-Material. Ebenso Israel. Verteidigungshilfe bekam die Türkei, die vor allem mit Ex-NVA-Maschinenpistolen und Schützenpanzerwagen den Bürgerkrieg gegen die PKK vorantrieb.

Die Regierung schickte das Militärmaterial in Krisen- und Kriegsregionen, obwohl das den Rüstungsexportrichtlinien widersprach. Abgewiegelt wurden Proteste mit dem Hinweis, es handle sich ja nicht um einen richtigen Export.

In den Medien zeigte man Anfang der 90er Jahre vor allem die Verschrottung alter Ost-Panzer. Derweil lief der geheime Handel mit Ex-NVA-Ausrüstung schwungvoll. Stichwort Länderabgabe: Die Bundeswehr hat an 45 Länder und an die UNO Material verteilt. Griechenland beispielsweise erhielt drei Fla-OSA-Raketenkomplexe mit 924 Raketen, dazu Fla-Selbstfahrlafetten, 500 Schützenpanzer BMP-1, Panzerabwehrraketen, 158 Geschosswerfer, Schützen- und Panzerminen und noch so einiges, was das Land nicht brauchte, das aber die NATO-Südflanke verstärken half. Indonesien bediente sich mit Hilfe persönlicher Beziehungen eines Ministers zu ehemaligen, inzwischen einflussreichen deutschen Studienfreunden in der Marineabteilung. Der Beschaffungswert dieser NVA-Schiffe betrug etwa 1,7 Milliarden Mark der DDR. Durch die Bundeswehr wurde ein Zeitwert von 187 Millionen D-Mark berechnet. Das Umrechnungsverhältnis würde jeden Banker aus den Schuhen hauen. Wie viel Indonesien wirklich zahlte, ist nie öffentlich geworden.

Mit einer Reihe von Ländern schloss Deutschland Exportverträge. Fragte jemand im Parlament - was selten genug geschah, da man ja insgesamt froh war über den zügigen Fortschritt der »Verschrottung« -, dann zog sich die Regierung auf vereinbarte Geheimhaltung zurück. Manchmal jedoch tauchen NVA-Waffen ganz unverhofft wieder auf. Als sogenannter Reexport.

Zu Zeiten der DDR hatte die NVA 1112 BMP-1-Kampfmaschinen, die mit einer 73mm-Glattrohrkanone, einem MG sowie mit Panzerabwehr-Lenkraketen bewaffnet sind und neben der dreiköpfigen Besatzung acht Soldaten transportieren können. Noch bis 1994 nutzte die Bundeswehr eine ganze Reihe dieser Fahrzeuge - nach bestehenden Normen zu BMP-1A1-Ost umgebaut. Die wurden dann, so wie der große Rest zuvor, verscherbelt. Einige sollen nach Tschechien gelangt sein, 165 nach Finnland, mehrere hundert nach Schweden, wo sie unter der Bezeichnung Pansarbandvagn 501 genutzt wurden. Das skandinavische Land hat dann seit 2010 rund 350 der einstigen DDR-Schützenpanzer nach Tschechien an die Kriegswaffenfirma »Excalibur« verhökert. Durch den Krieg in Irak wuchs ihr Wert immens, denn die irakische Regierung bat um Ausrüstungshilfe. Schweden hatte ordnungsgemäß in Berlin nachgefragt, als es die Panzer nach Tschechien verkaufen wollte. Tschechien fragte, bevor man den Vertrag mit Irak unterschreiben konnte. Und Irak musste die deutsche Einspruchsklausel gleichfalls akzeptieren. Jedenfalls für die, die man nicht für IS-Milizen zur Abholung bereitstellte.

Die Bundesregierung selbst hat im Herbst 2014 Waffen, Fahrzeuge und Ausrüstung im Wert von rund 70 Millionen Euro nach Irak geschickt. Anfang 2015 wurden Güter für weitere 13 Millionen Euro genehmigt. Alles als sogenannte Länderabgabe.

Was ist der Unterschied zu gewöhnlichen Rüstungsexporten? Der Absender. Bei Rüstungsexporten verkauft ein deutsches Unternehmen Produkte ins Ausland, diese Geschäfte unterliegen Kontrollen durch Bundesministerien und werden im Bedarfsfall vom geheim tagenden Bundessicherheitsrat genehmigt. Länderabgaben, also die Abgabe von Altmaterial der Bundeswehr, erfolgen in Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums in Berlin.

Mit diesen Regelungen hat man »grundsätzlich gute Erfahrungen« gemacht, sagt das Verteidigungsministerium. Also alles perfekt? Nein. In einem Schreiben an den Verteidigungsausschuss des Bundestages liest man: »Die Bundesregierung prüft gleichwohl das gegenwärtige System der Endverbleibskontrolle im Hinblick auf Verbesserungsmöglichkeiten.« Dazu hat man Anfang Juli im Kabinett klammheimlich ein Eckpunktepapier verabschiedet. Inhalt? Unbekannt. Logisch, denn: Beratung und Beschlussfassung der Bundesregierung über Rüstungsexporte unterliegen generell »dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung« und der »Vertraulichkeit«. So kann man - bedauert die Bundesregierung auf Anfrage - auch die vom Auswärtigen Amt erteilten Unbedenklichkeitserklärungen nicht veröffentlichen.

Das Problem mit diesem grauen Waffenmarkt geht inzwischen weit über die Geheimhaltung beim Weiterverkauf der NVA-Waffen hinaus. Generell gilt - Zitat Bundesregierung: »Eine regelmäßige Unterrichtung des Deutschen Bundestages über entschiedene Reexportgenehmigungsanträge von ursprünglich aus Deutschland stammenden Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern erfolgt nicht.« Klar, denn der Umgang mit Reexportanfragen ausländischer Staaten oder Unternehmen für aus Deutschland bezogene Rüstungsgüter ist im deutschen Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollrecht »nicht speziell geregelt«. Warum? Weil sie »generell keine exterritoriale Wirkung entfalten«, gab das Finanzministerium dem Linksfraktionshaushälter Michael Leutert Bescheid.

Eine weitere Nachfrage zu bereits stattgefundenen Reexporten der NVA-Waffen ließ zudem Zweifel am deutschen Ordnungssinn wachsen. »Bezüglich der Abgabe bzw. Verwertung der NVA-Bestände seit den 1990er Jahren bis einschließlich 1994 sind keine Unterlagen mehr vorhanden.« Man könne nur aus den letzten zehn Jahren einiges rekonstruieren, sagt die Bundesregierung und listet zwölf belanglose Positionen auf, bei denen Ex-NVA-Kampftechnik der Verschrottung zugeführt oder zur Zieldarstellung an die Firma Rheinmetall abgegeben wurde.

Wenn keine Unterlagen mehr über den Export von NVA-Waffen existieren, ist auch alles Gerede über die durch die Bundesregierung ausgeübte Kontrolle dieser Waffen(weiter)verkäufe hohl. Es vagabundieren also nicht nur sogenannte Kleinwaffen durch die Welt. Offenkundig hat man in Berlin auch keinerlei Übersicht über Länderabgaben, die originäres Bundeswehrgerät betreffen. Es handelt sich um Schiffe, U-Boote, Panzer, Hubschrauber, Haubitzen, Fahrzeuge aller Art ... Schlamperei? Kaum. Es ist nur scheinbar ein Kuriosum der Geschichte, dass das Verschwinden einer ganzen deutschen Armee die Welt nicht waffenfreier und sicherer gemacht hat.

Ein Nachtrag zu den Marienbergern. Alle paar Jahre versammeln sich Ehemalige zumeist in einem Gasthaus zum »Weißt-du-noch-Treffen«. Es werden naturgemäß weniger Teilnehmer. Der Name des Kommunisten und Spanienkämpfers Max Roscher ist den heutigen Soldaten im alten Objekt unbekannt. Die Einwohner des Städtchens haben sich mit der »Erzgebirgskaserne« und dem 371. Panzergrenadierbataillon der Bundeswehr arrangiert. Dessen Soldaten sind zumeist kampferfahren. Während ihre NVA-Vorgänger maximal bis zum nächsten Übungsacker verlegt wurden, waren die Bundeswehrangehörigen schon auf dem Balkan und am Hindukusch. Nun sitzen sie seit einigen Monaten auf gepackten Containern, ihre »Marder«-Schützenpanzer und »Boxer«-Transporter sind abmarschbereit. Die Truppe gehört zur Very High Readiness Joint Task Force (VJTF). Das ist die ganz schnelle Speerspitze der NATO. Sie soll - wie bereits in Polen geübt - »den Russen« abschrecken. Falls der darauf Wert legen sollte.

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