Die Massen und die Macht

Swetlana Alexijewitsch erhält den Literaturnobelpreis 2015

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Sie sei keine Historikerin, sondern eine »Menschenforscherin«, sagt die belorussische Schriftstellerin von sich. Ihre Bücher: ein Chor aus verschiedenen Stimmen, die ein sinnerfülltes Leben für alle einfordern - ohne Kriege.

Eine politische Entscheidung ist es natürlich auch – wie so oft in Stockholm. Es passt in die gegenwärtige Weltlage, wie Swetlana Alexijewitsch ihre mahnende Stimme gegen den erstarkenden russischen Nationalismus erhebt. »Wir haben nicht die Krim wiederbekommen, sondern die Sowjetunion«, schrieb sie voriges Jahr in der FAZ. »Die roten Fahnen sind wieder da, der ›rote‹ Mensch ist wieder da ... Fünfzehn Jahre hat Putin daran gearbeitet. Tag für Tag reanimierte das Fernsehen die sowjetischen Ideen. Und wir dachten, sie wären tot.«

»Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus« – für dieses Buch hat Swetlana Alexiejewitsch vor zwei Jahren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen. Bei der Arbeit daran hatte sie schon damals festgestellt, wie viele Menschen den Untergang der Sowjetunion inzwischen bedauerten, weil sie sich in ihren Hoffnungen enttäuscht sahen. »Sie dachten, sie würden bald leben wie in Amerika oder in Deutschland, stattdessen leben wir nun wie in Kolumbien.« Das sagt im Buch eine Frau, die früher in einem Kreisparteikomitee war. Nun gut. Eine andere, die in einem Straflager in Kasachstan und später in einem Kinderheim aufgewachsen ist, also allen Grund hat, den Sowjetstaat zu hassen, kann sich indes ebenso nicht damit anfreunden, was danach kam: »Überall Ellbogen, Ellbogen, Ellbogen ... Das ist nicht meins. Nicht meins!«

Sie sei keine Historikerin, sondern eine »Menschenforscherin«, bekennt Swetlana Alexijewitsch. Dabei hat sie natürlich in allen ihren Büchern Zeitbilder geschaffen. »Ich habe des Genre der menschlichen Stimmen gewählt«, schreibt sie auf ihrer Webseite. Was sie auf der Straße hört, wonach sie auch Leute speziell befragt, daraus entstehen ihre Bücher. Sie schildert Gespräche, allerdings in anonymisierter Form. Sie könnten auch ausgedacht sein, aber sie wirken in ihrer Vielstimmigkeit absolut authentisch. Beim Lesen entsteht da kein Zweifel. Man sieht die Menschen gleichsam vor sich, mit denen die Autorin gesprochen hat, man glaubt, dass sie alles genauso gesagt haben. Es könnte wie eine akribische journalistische Arbeit oder wie eine wissenschaftliche »oral history« wirken, aber es entsteht bei Swetlana Alexijewitsch dabei auch immer ein Kunstwerk, mit Bedacht komponiert aus eben diesen »Stimmen«.

Die Autorin scheint sich dabei völlig zurückzunehmen. Was sie hört und aufschreibt, lässt sie unkommentiert. Aber in der Zusammenstellung spürt man natürlich, wie sie selber denkt und fühlt. »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«, so hieß ihr erstes Buch, mit dem sie 1985 in der Sowjetunion für Furore sorgte. Sie bekam mehrere bedeutende Literaturpreise dafür; auf der Grundlage ihres Manuskripts ist ein siebenteiliger Dokumentarfilm entstanden.

Es war etwas Neues in der Literatur über den Großen Vaterländischen Krieg, in der natürlich auch vorher nicht nur von Heldentum, sondern auch von Opfern die Rede war. Aber es gibt einen Unterschied, ob Männer oder Frauen darüber sprechen, davon war die Autorin überzeugt, und das erwies sich auch in ihren Gesprächen. Auch Frauen können töten und hassverzerrte Gesichter haben, aber bei Swetlana Alexijewitsch rechnen sie es sich nicht zur Ehre an. Grauenhaft, wie da so viele junge Menschen starben – die eigenen Leute oder die Feinde, im Tode waren sie kaum mehr zu unterscheiden.

Die allgemeinmenschliche Wahrheit – vor dem Hintergrund des (von einer früheren Generation errungenen) Sieges konnte auch davon die Rede sein. Swetlana Alexijewitsch hatte in vielen sowjetischen Autoren Gleichgesinnte, die ein humanistisches Ideal behaupteten und ideologischen Verengungen im Alltag entgegentraten. Was die Massenmedien verschwiegen, die Literaten brachten es in die Öffentlichkeit. Daraus bezogen sie ihr Renommee, das war ihr Stolz. Wer diese Herkunft nicht mitdenkt, wird Swetlana Alexijewitsch womöglich nur propagandistisch verstehen: als »Regimekritikerin«, wie es jetzt allenthalben heißt.

Eine Gesellschaft, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, diesem Ideal haben sich russische Schriftsteller schon vor der Oktoberrevolution verpflichtet gesehen. Wie dieses Ideal bei Swetlana Alexijewitsch im Alltag »geerdet« wird, das ist das Beeindruckende. »Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen bitte sehr«, das möchte man summen, wenn man ihre Texte liest. Ein »Geschwätz« macht niemanden satt und nicht warm, wobei es, wie man in den Büchern immer wieder liest, auch nicht nur um das leibliche Wohl gehen kann. Das Gefühl, in Sicherheit, geborgen zu sein, eigene und fremde Kinder nicht in Gefahr zu wissen – Swetlana Alexijewitsch ist umso sensibler für dieses Erstrebenswerte, weil sie 1948, unmittelbar nach dem Kriege, geboren wurde. Und weil sie eine Frau ist. Bloß nie wieder Krieg – was meine Mutter immer wieder sagte, wird sie wohl auch von ihrer gehört haben. Dass der Zweck die Mittel heiligt, bedeutet doch immer wieder nur, dass Menschen geopfert werden dürfen.

Insofern waren Bücher wie »Die letzten Zeugen« (über Kinder im Zweiten Weltkrieg), »Zinkjungen« (über die Getöteten in Afghanistan) oder »Tschernobyl. Eine Zukunft« auch als Anklage zu lesen. Für die Macht – jegliche Macht – sind die Massen doch nur Arbeitsarmee, schlimmstenfalls Kanonenfutter. Die Geschichte verfährt mit ihnen, ob sie nun mittun oder sich widersetzen. Swetlana Alexijewitsch – als Kind einer ukrainischen Mutter und eines belorussischen Vaters fühlt sie sich weiterhin dem Russischen verbunden – will diesen Massen Gehör verschaffen, formt die verschiedenen Stimmen zu einem Chor, der ein sinnerfülltes Leben für alle einfordert: in friedlichem Miteinander, mit Wohlstand für alle.

Ist sie politisch naiv? Wohl nicht. Sie will nur andere Prioritäten setzen, als die politisch Mächtigen es tun. Ginge es nach ihr, würden die Militärausgaben weltweit reduziert. Aber es müsste eben weltweit geschehen. Wenn sie den Preis in Stockholm entgegennimmt, könnte es sein, dass sie europäische Werte lobt. Aber auch die versteht sie als Ideal. Lebte sie hier, würde sie sich ebenso für jene Menschen einsetzen, die ins Abseits gedrängt sind. Nur dass dieses Abseits hier vielfach komfortabler als das in Osteuropa ist. Insofern wird sie nach Stockholm von weit her kommen – mit einer Erfahrung, über die jene nicht verfügen, die sie nun loben. Vorstellbar, dass sie das Preisgeld für gute Zwecke spendet.

In ihren Büchern brechen Menschen nicht selten in Tränen aus, weil ihnen im Gespräch wieder deutlich wird, was sie eigentlich hatten vergessen wollen. Oder einfach nur, weil sich endlich jemand für sie interessierte, sie überhaupt wahrnahm. Und dann geschieht es, dass Swetlana Alexijewitsch sie in den Arm nimmt und mit ihnen weint.

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