American Weh of Life

Vor hundert Jahren wurde der große Dramatiker Arthur Miller geboren

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Er war der Ehemann von Marilyn Monroe, schrieb aber auch eine ganze Reihe bekannter Stücke. Am 17. Oktober wäre der Dramatiker und Erzähler Arthur Miller 100 Jahre alt geworden. Andenken an einen, der Großen.

Es gibt viele kleine Tode, die in einem Körper Platz haben und sich heimtückisch Leben nennen. Diesen vielen kleinen Toden kann man aber entgehen, denn: Es gibt ja noch den einen, den großen Tod. Du musst ihn nicht suchen, er hat dich längst gefunden, dich, Willy Loman. Er: einer für so Viele. Der Unvergessliche, mit dem Gesicht von Dustin Hoffman im Film und von Christian Grashof am Deutschen Theater Berlin. Eine bleibende Zentralgestalt im Zeitalter von gnadenloser Selektion am Lohnarbeitsmarkt.

Arthur Millers Stück »Tod eines Handlungsreisenden« von 1947. Neben Falladas »Kleiner Mann, was nun?« wohl die gültigste, erschütterndste aller Tragödien darüber, wie der Verlust des Arbeitsplatzes einen Menschen vernichtet. Ein unbesieglicher Stoff. Der vom traurigen Talent erzählt, nicht wahrgenommen und deshalb weggeschnipst zu werden. Loman ist dauerreisender Vertreter, müde, abgeschlafft, erfolglos. Aber zunächst nicht müde genug, um nicht weiter von seiner Bestimmung für diesen Scheißjob zu träumen. Nicht abgeschlafft genug, um nicht weiter seine zwei Söhne mit Aufstiegsrezepten zu tyrannisieren. Nicht erfolglos genug, um sich nicht weiter vor seiner eigenen Frau zu verbergen. Miller legt eine fundamentale Unvereinbarkeit frei - von selbstbestimmtem Leben und sozialer Abhängigkeit, von Charakter und kapitalistischen Anpassungszwängen. Wo andere sich selbstverständlich ins soziale Fitnessprogramm einloggen, muss der kleine Loman sich hineinlügen. Bis zum Selbstmord jagt er der modernen Ankunftsideologie nach: Heim-ins-Reichsein. American Weh of Life.

Arthur Miller, auch Erzähler und Essayist, war einer der größten Dramatiker der Welt (»Alle meine Söhne«, »Blick von der Brücke«, »Hexenjagd«). Charismatiker, total. Doch plötzlich geschah's, dass just der Bann, in den er schlagen konnte, sich gegen ihn selbst richtete. Er, die frühe Legende, wurde mit einem Male Anhängsel eines anderen Mythos. Das war, als Miller 1956 Marilyn Monroe heiratete und somit medial zum Mann seiner Frau wurde. Ein Angriff der Unterhaltungsindustrie auf die Kunst. Der vorgezogene Zugriff der Spaßgesellschaft auf den wahren Wert. Der Voyeurismus als Letztziel der Zuwendung zu einem Menschen. Die Ehe dauerte nur kurz, die Bilder mit der blondesten aller Schönheiten aber verfolgten den Schriftsteller bis in die Nachrufe hinein (er starb 2005, nicht weit entfernt von seinem 90. Geburtstag).

Der Sohn einer jüdisch-polnischen Einwandererfamilie aus Harlem kam aus einem Jahrhundert, da Künstler und Intellektuelle das Wort noch für eine Sache hielten, der man wünschte, sie möge Folgen haben. Man schrieb, weil man sich entschieden hatte. Frontscharf. Es ging ums Ganze, und man ging ganz darin auf. Moral als Selbstermächtigungsgesetz: »Ich muss davon ausgehen, dass ein Schriftsteller die Pflicht hat, sich als Anwalt der Gerechtigkeit in die Zeit einzumischen, auf der Seite der klaren Wahrheiten« (Miller 1968). Das hört sich heute sehr vergangen an - am vergangensten wirkt wohl die Gewissheit, was das sei: Gerechtigkeit, und wo dabei die klaren Wahrheiten zu finden wären. Ob es sie überhaupt noch gäbe.

In Millers Lebenslauf vibriert die innere Geschichte der Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts. Der traumatische Schock des väterlichen Textil-Bankrotts im Börsenkrach 1929. Der harte Existenzkampf des jungen Fabrikarbeiters in der großen Depression der dreißiger Jahre. Die erste Begegnung mit linkem Gedankengut. Der missionarische Idealismus der unmittelbaren Nachkriegszeit, verbunden mit dem Rausch der ersten künstlerischen Erfolge. Das Zerbrechen des US-amerikanischen Traums bei den Kommunistenverfolgungen der McCarthy-Ära. Die Ernüchterung über den Charakter des hegemonialen Staates sowie ein gerüttelt Maß persönlicher Krisen. Zum Schluss das Entsetzen über Bush und dessen Irak-Krieg. Miller hat am eigenen Leib gespürt, was es heißt, zu seiner Zeit US-Amerikaner gewesen zu sein. »Mein Pass verdammt mich, überall als Imperialist erkannt zu werden.«

Soziale Dramen. Seine Meisterleistung. Was sind das für Dramen? Die Ideen-Spur führt bei ihm von Griechenland über Ibsen zu Tschechow. Sozial - das erschöpft sich nicht im Anklägerischen gegen die Gesellschaft. Miller geht es ums »Drama des ganzen Menschen«, und das besteht in der Uraltfrage danach, wie man leben solle. Wie man aus einer zufälligen Welt von Menschen, die ungefragt geboren wurden, für alle ein Zuhause machen kann. Ein Zuhause, in dem man weiter Kinder zur Welt bringt - aber ohne Furcht, sie könnten einen just deshalb, nach einem gewissen Quantum an eigenen Erfahrungen, nur noch hassen.

Er war einer der letzten Solitäre des 20. Jahrhunderts. Erinnerung an ihn schürt also auch den Gedanken daran, dass es vielleicht damals, inmitten so großer Schrecken des kalten Weltenkrieges!, doch weit kräftigere Charaktere gab. Im Politischen, überhaupt im Gestalterischen. Wie geschieht das wohl, dass jede Zeit offenbar genau jene Typologie produziert, die dieser Zeit dann das Prägende gibt? Oder deren Blässe offenbart. Derzeit scheint rundum das Laue zu genügen. Vielleicht, um die Gemüter mählich zu erhitzen für den großen Krach wider die allwaltende Charakterbleiche? Die Unschärfe ist der Gesichtsausdruck der Dämmerungen. Oder der Vorgewitter. »Ich suche nach Geist in Washington, nach Ideen in den Lehrstätten, nach Aura in den großen Redaktionen, aber jeder Blick in die Runde erschüttert«, schrieb Miller in seiner Autobiografie »Zeitkurven«. Und Zeitkurven haben ihn stets interessiert. »Die Idee vom Nationalstaat in Geist und Seele der Deutschen« heißt ein Essay zur deutschen Wiedervereinigung. Eine Hoffnungsschrift. Wie sie nur ein Außenstehender schreiben konnte - was nicht unbedingt für uns Deutsche spricht.

Was wir im Leben brauchen, so schrieb er, »ist Nahrung, Sexualität und Selbstverständnis, der Rest ist Kommentar«. Die Monroe, für die er den Film »Nicht gesellschaftsfähig« schrieb, ist dafür nur ein Beispiel - für Kerleskraft, für Lust am Extravaganten, für die Suche nach der immer etwas anderen Lebensart. Die besten Dramen Millers, der Mitte der sechziger Jahre Präsident des Internationalen PEN war, sind Aufschrei »gegen das Schicksal«. Aus Aufschrei ist unser verlegenes Grinsen, Hüsteln geworden. Denn die Zeit ist der große Räuber, sie raubt heute massenhaft Selbstachtung. Also hüsteln wir und tänzeln dauernd verschämt oder unverschämt in irgend eine Albernheit hinein. Das ist möglicherweise der bittende Grund, unbedingt Miller zu spielen. Oder die bittere Erklärung, warum er immer weniger gespielt werden könnte. An diesem Sonnabend ist es hundert Jahre her, dass Arthur Miller geboren wurde.

Arthur Miller: Fokus. Roman. Aus dem Amerikanischen von Doris Brehn. Fischer Taschenbuch. 224 S., 9,99 €. Arthur Miller: Presence. Sämtliche Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, 414 S., geb., 22,99 €.

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