Radical chic in Minsk und London

Eindrücke vom Festival »Staging A Revolution« des Belarus Free Theatre

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Zischen breitet sich auf der Bühne aus, schwillt an, ebbt dann ab, bleibt aber für unerträglich lange Sekunden in den Ohren. Stephanie Tan, britische Performerin des Belarus Free Theatre, hat gerade den Klang von Gaskammern nachgeahmt. Den wenigen versprengten Deutschen im Publikum klingen beim Stück »Trash Cuisine« im Rahmen des Festivals »Staging a Revolution« in London ganz besonders die Ohren. Tan macht später noch das »Plopp, plopp, plopp« eines auf den Boden polternden abgehackten Kopfes nach. Bei der akustischen Nachstellung des Tötens durch den elektrischen Stuhl helfen ihr die Kollegen. Hocker sind die Großrelais, die in Ensemblearbeit umgelegt werden müssen, damit der Strom fließt und der Körper zuckt.

Mit diesem bemerkenswerten Abend über die staatlich sanktionierte Tötung geht die Truppe über den belorussischen Kontext, in dem sie groß geworden ist und wegen hartnäckiger Opposition gar Heldenstatus errungen hat, weit hinaus. Der Ausgangspunkt von »Trash Cuisine«: Belorussland ist das einzige europäische Land, in dem die Todesstrafe noch praktiziert wird.

Für deutsche Theater war das, so erzählt Regisseur Nicolai Khalezin gegenüber dem »nd«, dennoch kein Thema. Zu weit weg, zu belorussisch eben. Koproduzenten in den Niederlanden fanden sich erst, als in Belarus erneut zwei junge Männer hingerichtet worden waren - nach einem mit Folter erpressten Geständnis. »Am Tag nach der Hinrichtung drohte die EU mit Sanktionen gegen Lukaschenko. Wir hatten die Politiker in Brüssel gebeten, schon vor der Hinrichtung aktiv zu werden. Sie hatten nicht geglaubt, dass das Todesurteil tatsächlich vollstreckt würde«, sagt Dramaturgin Natalia Kaliada. Die Gruppe, deren künstlerischer Kopf seit vier Jahren im Londoner Exil lebt, verliert zunehmend auch den Glauben an westliche Politiker.

Belarus Free Theatre arbeitet dennoch weiter, in Westeuropa und in Belarus. »Technologie hilft uns. Wir führen die Proben von London via Skype mit unseren Schauspielern in Minsk durch«, beschreibt Khalezin die Arbeitsweise. Entstanden ist so auch das jüngste Stück »Time of Women« über zwei vom Regime verfolgte Journalistinnen und die Ehefrau eines politischen Gefangenen. Bis ins kleinste Detail ist die Zelle im KGB-Untersuchungsgefängnis nachgebaut, in dem die drei Frauen steckten. Der KGB-Vernehmer bringt die zynische Aura eines Afghanistanveteranen mit.

Beim 14-tägigen Festival im Londoner Young Vic Theatre zeigte die 2005 gegründete Truppe neun ihrer bislang 27 Produktionen. Sie lässt über Skype ihr Publikum in Minsk teilhaben und hat durch einen Livestream weltweite Zuschauerschaft. In Minsk gilt die Truppe als Magnet für alle, die anders sein wollen. Für das Londoner Publikum ist das Belarus Free Theatre eine authentische Stimme aus der sogenannten »letzten Diktatur Europas«, die zunehmend auch die »Diktatur des Geldes« im vermeintlich freien Westen zum Thema ihrer Arbeit macht. So imponiert das Belarus Free Theatre durch politischen Mut und wachsende ästhetische Qualität.

Livestream unter: moc.media/en/bft/srf/livestreaming

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