Die Wände der Ideologie

Das Grips-Theater inszeniert nach der Filmvorlage von David Wnendt »Die Kriegerin«

  • Sebastian Loschert
  • Lesedauer: 4 Min.

Als sich das Berliner Grips-Theater vor einiger Zeit vornahm, den Film »Kriegerin« von David Wnendt auf die Bühne zu bringen, war die Welt auch schon nicht in Ordnung. Doch seitdem ist das Thema »Flüchtlinge und Nazis« zu einer zentralen politischen Frage geworden. Nach mehreren hundert Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, einem Mordversuch an einer Bürgermeisterkandidatin, Waffenfunden und bewaffneten Angriffen sagte Theaterautorin Tina Müller zur Premiere: »Für mich ist es sehr schmerzlich, dass uns die Realität geradezu überholt hat. Dass sich Neonazi-Szenen, die ich mir ausdachte, plötzlich vielerorts abspielen.«

Die Handlung des Theaterstücks ist in groben Zügen die gleiche wie im Film von 2011. Zwei afghanische Flüchtlinge landen in einer Flüchtlingsunterkunft in Deutschland und sind zunächst glücklich, endlich im »Gebiet des Gesetzes«, im »Land des großen Glücks« angekommen zu sein. Doch ihre Hoffnungen werden bald enttäuscht: Durch das Elend im Flüchtlingsheim, den Alltagsrassismus und eine Naziclique, die sie anpöbelt und angreift. Die 18-jährige Marisa tötet beinahe Jamil, einen der beiden Flüchtlinge. Als sie den zweiten, Rasul, näher kennenlernt, beginnt ihr Ausstieg aus der Szene.

Die Szenerie auf der Bühne am Hansaplatz, von Silke Pielsticker entworfen, gleicht einer Schwarz-Weiß-Fotografie. Es gibt zwar eine Gruppe umherturnender Jugendliche, fröhlich, gesund, korrekt und gut, doch sie wirken wie falsche Kolorierungen. Sie spielen nur. Ansonsten: Eine schäbige Welt, gemacht aus Pappmaschee, Alufolie, Planen, Malerfarbe, Schund und Plunder, zusammengehalten von Baugerüsten und Sperrholzplatten. Die gewalttätigen Partys der Neonazis wirken da geradezu anziehend. »Scheißegal!« schreit die junge Svenja begeistert und lässt sich im Rausch eine »88« eintätowieren. Den zwischenmenschlichen Kitt aus Lügen und Halbheiten symbolisiert weiße Farbe, die sich die Schauspieler nach und nach durch Berührung aufeinander übertragen.

Dieser Grundton könnte deprimierend wirkend, doch es gelingt, die Zuschauer von Beginn an zu fesseln: Durch kleine Wortwitze, artistische und musikalische Einlagen, Videoprojektionen und die Spannung der Handlung selbst. Alessa Kordeck verkörpert die aggressive, später widerwillig reflektierende Marisa kongenial.

So instabil das Bühnenbild, so schwankend die Rollenverteilung: Jeder Schauspieler des Ensembles schlüpft in mehrere Rollen. Die Verwirrungen, die dadurch kurzzeitig angerichtet werden, sind beabsichtigt: Kommt da der Nazianführer Sandro auf die Bühne oder ist das der afghanische Flüchtling Jamil? Spricht die aufgeklärte Joggerin oder ist das Svenja, die Neue in der Kameradschaft? Einfache Identifikationen anhand von Äußerlichkeiten werden vermieden, ohne dadurch den Unterschied zwischen Opfer und Täter zu verwischen.

Der als Vorlage dienende Kinofilm von David Wnendt (»Feuchtgebiete«, »Er ist wieder da«) hatte es den Zuschauern teilweise zu einfach gemacht, die Naziideologie an den Rand der Gesellschaft auszulagern. Autorin Müller und Regisseur Robert Neumann ist mehr daran gelegen, rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft zu thematisieren und die Übergänge darzustellen. Anstatt jeden Nazi mit Hakenkreuz und Springerstiefeln äußerlich klar abzusondern, verweigert sich das Drama der oberflächlichen Identifikation von Nazi und Nicht-Nazi. Dadurch unterlaufen die Kostüme (Jan A. Schroeder) auch die Faszination der Nazisymbolik. Zwar wird weiterhin der Arm zum Hitlergruß gereckt und eine Nazigröße referiert lang und breit die typischen Pegida-AfD-NPD-Argumente von 2015, doch die Aura der Bilder, wie sie sich in realistischen Filmen entfalten kann, ist gebrochen.

Die Eltern sind nicht selbst Nazis, aber sie bilden den Boden, auf dem der Hass gedeiht. Der sadistische Vater von Svenja (»Alle verarschen uns nach Strich und Faden«), ihre Mutter (»89 sagt mir was«) oder der Vater von Neonazi Markus (»Er ist ein Monster. Wer hat ihm das eingepflanzt?«) verstehen wenig von dem, was geschieht. Svenja schreit »Heil Hitler« in den Straßen, doch niemand greift ein.

Am Ende der zweistündigen Aufführung gelingt es Marisa, die Wände der Ideologie, die sie umgeben, einzuschlagen. Das Stück endet optimistischer als der Film. Die kurze Zeit, die vergeht, bis sich Marisa von der Nazianführerin zur Fluchthelferin wandelt, sich die weiße Farbe ihrer Sozialisation abwäscht und »aussteigt«, mag unrealistisch scheinen. Ein Ausstieg ist schließlich kein Kippschalter, sondern eine Entwicklung. Andererseits: Zuerst musste Marisa einen Flüchtling beinahe umbringen und von ihrem Nazifreund regelmäßig geschlagen werden, bevor sie Gewissensbisse und schließlich den Szene-Koller bekam. Immun gegen Nationalismus und Fremdenhass ist sie damit noch lange nicht. Das Stück lässt Platz für eigene Reflexion, ohne in Beliebigkeit abzurutschen. Vom größtenteils jugendlichen Publikum gab es viel Applaus.

»Kriegerin«. Grips-Theater am Hansaplatz, Altonaer Str. 22. Nächste Termine: 24.11., 18 Uhr und 25.11., 11 Uhr.

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