»Statt die Mitte zu verändern«

Einmal kurz nach links und dann schnurstracks den Irrweg der Anpassung zurück: Tom Strohschneider über Gabriels Weg von Dresden nach Berlin

  • Lesedauer: 4 Min.

Die SPD wählt am Freitag ihre Führung neu. Parteichef Sigmar Gabriel kandidiert auf dem Bundesparteitag in Berlin zum vierten Mal für den Vorsitz, auch die stellvertretenden Parteivorsitzenden sowie eine neue Generalsekretärin stehen zur Wahl. Überraschungen sind nicht zu erwarten, sieht man einmal von der Bewertung ohnehin hoher Prozentzahlen gegenüber früheren Wahlergebnissen ab. Bekommt der Goslaer weniger als 83,6 Prozent - sein bisher schlechtestes Ergebnis, es stammt aus dem Jahr 2013? Und ist das überhaupt wichtig?

Wichtiger könnte anderes sein: Im Vorfeld der Abstimmung hatte die Kritik der Juso-Vorsitzenden Johanna Uekermann für Schlagzeilen gesorgt. Sie hatte vor wenigen Tagen dem SPD-Chef »für seine Politik in der Großen Koalition und als Parteivorsitzender eine Vier minus« gegeben - und damit schwere Empörung des Parteiestablishments ausgelöst. Als »unlogisch, unsolidarisch, unklug« strafte sie der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Hubertus Heil ab, Fraktionschef Thomas Oppermann wies die Kritik der Juso-Chefin als »konsequent unsolidarisch und wirklichkeitsfern« zurück.

Inzwischen wird in den Medien ein Spin verbreitet, der etwa so lautet: Die Kritik von Uekermann werde am Ende dazu führen, dass sich die SPD sogar noch eher hinter Gabriel zusammenfindet - eine Art Solidarisierungseffekt wird da prophezeit und auf diese Weise zugleich unausgesprochen die Behauptung gestärkt, die Kritik von Uekermann sei ohnehin abwegig. Ist sie das?

Sigmar Gabriel ist im November 2009 zum SPD-Vorsitzenden gewählt worden - nach einer historischen Wahlpleite. Er hat seinerzeit in Dresden eine viel beachtete Rede gehalten - eine Rede, die die Erwartung schürte, die SPD könnte sich nach Jahren der Schröderisierung wieder nach links wenden. Nun tritt der Agenda-Kanzler als großer Unterstützer Gabriels beim Berliner Parteitag auf - und stärkt dem SPD-Chef bei seinem umstrittenen Versuch den Rücken, die Partei für die Bundestagswahl 2017 wieder stärker »in die Mitte« zu rücken. Helmut Schmidt als Traditionsbezug, Gerhard Schröder als Vorbild - und Sigmar Gabriel auf Linie.

Nun, der amtierende SPD-Vorsitzende war vor sechs Jahren etwas schlauer. Zum »Konzept der politischen Mitte, wie es seit ein paar Jahren in Deutschland interpretiert wird« sagte Gabriel 2009, die SPD habe sich »einreden lassen«, dass man sich an diese angebliche Mitte »anpassen müsse, wenn man Wahlen gewinnen will«. Dies habe die SPD verändert. »Nicht überall, aber doch in wichtigen Bereichen haben wir nicht mehr um die Deutungshoheit unserer eigenen Antworten gekämpft. Statt die Mitte zu verändern, haben wir uns verändert. Wir haben uns schrittweise der damals herrschenden Deutungshoheit angepasst.«

Gabriel warnte 2009 davor, sich eine falsche »Alternative nach dem Motto ›Entweder links oder Mitte’« einreden zu lassen. »Sozialdemokratie war immer dann stark, wenn sie sich nicht mit Anpassung zufrieden gegeben hat, wenn sie mehr war als das kleinere Übel. Die SPD hat nur Erfolg, wenn sie den Hoffnungsüberschuss produziert« - auch das Worte des nun so gern als Vizekanzler bezeichneten SPD-Politikers.

Gabriel wusste damals, was der positive Bezug auf »die Mitte« in Wahrheit will: Damals beanspruchte die schwarz-gelbe Regierung, eine »Koalition der Mitte« zu sein. Gabriel kritisierte das mit den Worten: »Sie wollen, dass sich der Eindruck verfestigt, dass sich links und Mitte ausschließen. Sie möchten Etiketten verteilen: sie, die Moderaten in der Mitte der Gesellschaft, und die anderen Fundamentalisten oder Schlimmeres.«

Heute ist der Mann mit der Union selbst in der Regierung – und mit der Schröder-Vergangenheit der SPD im Reinen. Es hätte 2013 eine andere Mehrheitsoption gegeben. Gabriel hat sich entschieden. Alles, was jenseits der Vorstellungen der SPD existiert; alles, was sich der von Gabriel inzwischen akzeptierten »herrschenden Deutungshoheit« widersetzt; alles, was einen »Hoffnungsüberschuss produziert« wird als aberwitzig oder illusorisch zurückgewiesen. Was die SPD unter Gabriel geschafft hat, ist: sich nach einer kurzen Phase der Selbstkritik und sozialdemokratischen Besinnung dann doch »mit Anpassung zufrieden gegeben« haben.

Mit welchem Ergebnis? Die SPD steht in den Umfragen um gefühlte drei Milimeter besser da als nach der Bundestagswahl 2009. Darüber täuschen die sozialpolitischen Schaufenster-Ergebnisse der SPD in der Großen Koalition nicht hinweg. Ja, der Mindestlohn und anderes werden bleiben und sind wichtige Schritte zur Wiederherstellung eines sozialen Mindestsicherungsnetzes, das die SPD zuvor selbst zerschlagen hat. Aber eine wirksame Rückwendung zur Sozialdemokratie als Prinzip hat es unter Gabriel nicht gegeben. Die Weise, in der die SPD-Spitze gegen die SYRIZA-Regierung und ihre sozialdemokratische Notpolitik Front machte, steht dafür beispielhaft.

Gabriel wird am Freitag wohl über 80 Prozent der Delegiertenstimmen bekommen. Man wird ausmessen, wie große der Prozentabstand zu früheren Wahlergebnissen ist. Eine Ersatzhandlung, mit der man die eigentlichen Fragen umgehen kann: Wohin hat Gabriel die SPD geführt und wie weit ist er inzwischen entfernt von seinem Dresdner Auftritt von 2009? Wer das in der SPD thematisiert, wird als »unlogisch, unsolidarisch, unklug« diffamieret. Es könnte sein, dass dieser Partei einfach nicht mehr zu helfen ist. Wäre es so, müsste sich die Sozialdemokratie einen neuen politischen Ort suchen.

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