Sie sind schon da

Karin Kalisas Roman »Sungs Laden« - ein Märchen von gelungener Integration. An das man glauben muss, damit es wahr wird

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 4 Min.

Meine Mutter macht sich Sorgen. Sie ist jetzt 81, lebt im neunten Stockwerk einer Platte in Berlin-Lichtenberg und sieht jeden Abend im Fernsehen Flüchtlinge strömen. Das geht nicht gut, sagt sie, die da kommen, die respektieren uns ja nicht.

Man hört es jetzt dauernd. Die alte Angst vor dem Fremden? Oder sind es die Bärte? Denn neue Nachbarn ist Mutter inzwischen gewohnt, mag sie sogar ganz gerne. Doch diese wollen uns weder verschleiern noch enthaupten, betteln nicht mal vor der Kaufhalle, sondern übertreffen in Betragen und Fleiß noch die zugereisten Schwaben. An jeder Ecke Läden, wo »Blumen gebunden, Pho gekocht, Fingernägel lackiert, Zeitungen verkauft, Mangos geschält« werden. Ihr reichlicher Nachwuchs wimmelt auf den Spielplätzen, keine Lichtenberger Schulklasse ohne Ur-Enkel von Onkel Ho. Einst kamen ihre Vorfahren in kleinen Delegationen aus dem zerbombten Vietnam ins weniger marode Bruderland, billige Arbeitskräfte. Viele blieben nach ’89, holten Verwandtschaft nach ins nunmehr gesamtdeutsche Wohlstands-Paradies. An diese historischen Tatsachen knüpft Karin Kalisas liebenswertes Märchen an.

Im Mittelpunkt steht die Besatzung eines typischen Tante-Emma-Ladens mit »Waren des täglichen Bedarfs«, eine vietnamesische Familie in drei Generationen. Als jedes Kind etwas zur Schule mitbringen soll, das auf seine Wurzeln verweist, schleppt die vietnamesische Oma mit ihrem Enkel eine alte Holzpuppe in die Aula und erzählt deren Geschichte. Der Auftritt setzt eine ungeahnte Entwicklung in Gang. Berührung ist geschehen, schwer zu messen, und sie setzt sich fort und fort. Auf einmal wollen alle so eine Holzpuppe, immer mehr Leute tragen diese Kegelhüte aus Reisstroh, und Oma improvisiert eine kleine deutsch-vietnamesische Sprachschule.

Selbst aus den alten Bundesländern nach Berlin zugewandert, wählt die 50-jährige Autorin als Schauplatz ihrer »Installierung von little Vietnam« ausgerechnet den Prenzlauer Berg. Die Zerstörung der einstigen Bevölkerungsstruktur durch Immobilien-Boom und Gentrifizierung ist ihr bewusst, sie lässt es durchblicken. Doch in Kalisas Weichzeichnung ist der Bezirk bevölkert von Gestalten mit dem Stallgeruch vergangener Zeiten. Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört: rare Reste putziger Ostler und die Nachkommen jener Vertragsarbeiter aus den späten Tagen des Sozialismus.

Ein Antiquar sucht alte DDR-Ausgaben von vietnamesischer Literatur aus seinen verstaubten Beständen und platziert sie prominent im Schaufenster. Oder der Mann vom Bürgeramt, im Zuge der Vietnamisierung des Abendlandes mutiert er zum Street-Art-Partisanen, und am »nächsten Morgen flatterte eine wirklich große, ja, eine überdimensionale rote Flagge mit dem Portrait Ho Chi Minhs vom höchsten Dach«. Die Leute bleiben stehen, Gespräche beginnen. Kommt da was in Gang? »Unauffällig mischte sich der marxistisch-leninistisch ausgebildete Historiker, den die Wechselfälle des Lebens ins Amt für Gewerbeangelegenheiten gebracht hatten, unter die Leute und diskutierte mit.«

Schließlich die Brigade verwegener Industriekletterer; sie erlernt die alte asiatische Handwerkskunst des Baus von »Affenbrücken«, flink montiert und wieder eingepackt. »Sie fingen klein und bodennah an.« Doch bald wachsen zwischen den Häusern luftig leichte Bambus-Passagen, schaffen Verbindung, und Passanten heben die Köpfe und lachen. »Nach den Kopfsteinpflasterstraßen wurden die zweispurigen Straßen gequert und schließlich wagten sie sich an die Königsklasse: vier Spuren plus Straßenbahn.«

Wer statt der Fernsehbilder frierender Flüchtlinge lieber liest, kriegt von Kalisa verwandte Fragen gestellt. Was vermag bürgerschaftliches Engagement? Ist unsere Gesellschaft eine Gemeinschaft? Was verändert sich, gehen Menschen plötzlich aufeinander zu, beginnen einander wahrzunehmen, jenseits der Ängste und Klischees? Zuweilen rührend und poetisch erzählt die kleine Heimatkunde von Integration und hält sich dabei nicht lange auf mit dem bleiernen Hintern der Realität.

Stück um Stück verwandelt sich die Stadt, bekommt neue Farben dazu, Töne, Gerüche. Behutsam, wie von zärtlicher Zauberhand entsteht ein besserer Menschenort. »Dass sich Bauaufsicht, Polizei und Ordnungsamt zurückhielten, grenzte an ein Wunder. Man hielt kollektiv den Atem an, ließ geschehen und staunte.« Am Ende sind alle bereichert, gibt es nur Gewinner. Eben ein Märchen, wie gesagt. Gehen wir ihm gläubig entgegen. Denn so ist es doch mit den Märchen und ihrer tieferen Wahrheit: Glauben wir erst an sie, werden sie vielleicht ein Stück wahr.

Karin Kalisa: Sungs Laden. Roman. C.H. Beck, 255 S., geb., 19,95 €.

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