Die stille Sucht

Medikamentenabhängigkeit trifft überwiegend Frauen - Hilfe gibt es noch zu wenig

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.
Zwei Drittel der Medikamentenabhängigen sind Frauen, in Therapieeinrichtungen findet man aber überwiegend Männer. Experten sprechen von einer »stillen Sucht«. Betroffene bleiben verborgen.

Eine junge Frau besucht eine Selbsthilfegruppe mit dem Schwerpunkt Missbrauch in der Kindheit. Als Bedingung für die Teilnahme gibt sie im Vorgespräch an, dass sie drogenfrei sei. Die leitende Therapeutin erfährt mit der Zeit von Druck auf der Arbeit. Das Gespräch mit Sandra Ebert, die in Wirklichkeit anders heißt, ist jedoch auch für die Psychologin schwierig, sie berichtet von Lügen und Misstrauen in der Beratung, vom wiederholten Rückzug der Klientin. Nach und nach wächst das Vertrauen, Sandra Ebert erzählt schließlich von Suizidgedanken. Sie habe Tabletten gesammelt, sie bringt diese mit und überlässt sie der Therapeutin. Nach weiteren vier Monaten gesteht Sandra, dass sie eine Kombination von Alkohol und Tabletten nimmt, um im Alltag klar zu kommen. Sie besucht dann eine stationäre Suchttherapie.

Die Vorgeschichte dieser jungen Frau ist durch Gewalt und Missbrauch in der Familien geprägt. Mit 13 Jahren versuchte Sandra zum ersten Mal, sich umzubringen. Ins Krankenhaus brachte ihre Mutter ihr anschließend Tabletten mit. Später folgte die Ehe mit einem gewalttätigen Mann, von dem sie sich nach 10 Jahren trennt. Sandra Ebert scheint sich zu fangen, macht ihr Abitur, studiert Sozialarbeit - und scheitert nach dem Abschluss an ihrer ersten Arbeitsstelle. Sie hat Angst, bekommt Psychopharmaka, wird frühberentet. Nach einer Phase des Missbrauchs von Alkohol und Tabletten versucht sie erneut einen Entzug, fühlt sich in der anschließenden Tagesklinik wohl. Gerade, als sich alles wieder zum Guten wenden könnte, unternimmt sie einen neuen Suizidversuch. Diesmal kommt der Notarzt zu spät.

Kein kleiner Unterschied
  • Wirkstoffe aus Arzneimitteln verteilen sich im Körper von Männer und Frauen unterschiedlich, gleiches gilt für ihren Abbau. Zur speziellen Biochemie der Frauen gehört der monatlich schwankende Hormonspiegel. So sind die Wirkungen von Medikamenten weniger berechenbar.
  • Frauen haben meistens ein niedrigeres Gewicht, eine andere Zusammensetzung der Muskeln und Eiweiße. Der Anteil an Körperfett ist geringer, das Blutplasma hat ein niedrigeres Volumen, die Organe sind weniger durchblutet. Da ihr Körper außerdem weniger Wasser enthält, wird bei wasserlöslichen Medikamenten schneller ein höherer Wirkstoffspiegel im Blut erreicht. Die Dosis dieser Mittel müsste bei Frauen niedriger ausfallen. Ähnlich verhält es sich mit fettlöslichen Wirkstoffen – sie werden langsamer abgebaut und wirken länger.
  • Deutlich unterschiedlich reagieren die Geschlechter zum Beispiel auf Morphin. Männer benötigen für die Schmerzfreiheit im Schnitt mindestens eine 40 Prozent höhere Dosis. Bei Frauen würde dies zu einer doppelt so starken Verlangsamung der Atmung führen.
  • Arzneimittelstudien werden vor allem an Männern durchgeführt. Bis heute wird bei den Dosierungsangaben und Nebenwirkung auf Beipackzetteln nicht zwischen den Geschlechtern unterschieden. uhe

Diesen Fall stellte die Psychologin Lydia Sandrock auf einer Fachtagung zum Thema »Frauen und Medikamente« Anfang Dezember in Potsdam vor. Die Mitarbeiterin des Autonomen Frauenzentrums Potsdam verwies mit der Geschichte ihrer Klientin auf die Komplexität derartiger Fälle und zugleich auf deren Besonderheiten: »Bei den Frauen gibt es eine große Sprachlosigkeit, Scham und massive soziale Ängste - vor Autoritäten wie Ärzten, Therapeuten und Beratern, zugleich vor jedem normal selbstbewussten Menschen.« Der Zugang zu Medikamenten - und ebenso zu Alkohol - sei einfach, daraus entwickelt sich oft eine lebenslange Gewohnheit.

20 500 Apotheken stehen in der Bundesrepublik bereit, jede versorgt etwa 3800 Menschen. Es werden jährlich fast 48 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben, der größte Teil davon im Wert von knapp 42 Milliarden Euro ist nur auf Rezept erhältlich. Es ergeben sich 1000 Einzeldosen pro Einwohner und Jahr - jeder Einzelne vom Säugling bis zum Rentner nimmt also durchschnittlich drei Tabletten pro Tag ein. Die Apotheker haben nicht allzu viel Chancen, gegen einen geahnten Missbrauch vorzugehen - die nächste Filiale ist in der Regel nicht weit.

Schon anders sieht es bei den Ärzten aus, die nicht selten mit wenig Überlegung monate- und jahrelang zum Beispiel Beruhigungsmittel verschreiben. Etwa, weil die Situation mit dem zu pflegenden Ehemann gerade nicht einfach ist. Ein Missbrauchspotienzial haben verschiedene, teils rezeptfreie Medikamente, von Beta-Blockern über koffeinhaltige Schmerzmittel, Appetitzügler bis hin zu den Schlafmitteln. Nach Schätzungen sind in Deutschland mindestens 1,5 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig, zwei Drittel davon nehmen Benzodiazepinderivate. Diese Medikamente - darunter Tavor oder Diazepam - fördern den Schlaf und wirken muskelentspannend. Nach zwei bis vier Wochen Einnahme ist eine Abhängigkeit wahrscheinlich. Für Krisensituationen in der Psychiatrie sind die Mittel unverzichtbar, sie sollten allerdings nur kurz und in niedriger Dosis angewendet und keinesfalls abrupt abgesetzt werden. Dies empfiehlt unter anderem Rüdiger Holzbach von der psychiatrischen Klinik Warstein-Lippstadt in Nordrhein-Westfalen. Der Psychiater verweist auf die Gefahren einer Langzeiteinnahme von Diazepam. Bei Gewöhnung kommt es relativ schnell zu einer Wirkumkehr - in der Phase einer relativen Unterdosierung treten Schlafstörungen, Ängste und eine gereizte Verstimmung auf. Über eine Erhöhung der Dosis wird schlimmstenfalls ein Vergiftungszustand erreicht, in dem es keinen Tag-Nacht-Rhythmus mehr gibt. Die Patientinnen sind dann auch tagsüber ständig am Einschlafen.

In Berlin gründete sich vor vier Jahren eine Initiative gegen Medikamentenmissbrauch. Dabei sind Professionelle aus Entzugskliniken, aus Prävention und Beratung. Die Krankenkassen mussten lange vergeblich um Mitarbeit angefragt werden, schließlich schloss sich die AOK Nordost an. Das Bündnis regt Fortbildungen und bessere Öffentlichkeitsarbeit an. Angesichts der »ausgeprägten Schwellenangst gegenüber der Behandlung auf einer regulären Entzugsstation« sollte ein qualifizierter Entzug auch ambulant oder in enger Verbindung von internistischen und psychiatrischen Abteilungen stattfinden. Psychiater Holzbach empfiehlt sogar, bei bestimmten, eher älteren Patientinnen ein Ausschleichen der Medikamente vorzuschlagen und die Begriffe Sucht und Abhängigkeit diesen gegenüber zu vermeiden.

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