Das Werkzeug des Großen Bruders

Neue Fakten über die Fähigkeiten der Spionagesoftware XKeyscore

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Der militärische US-Geheimdienst NSA hat Berichte über einen weitreichenden Zugriff auf Internetdaten mit Hilfe des Programms »XKeyscore« teilweise zurückgewiesen. Die NSA bestritt, dass man praktisch uneingeschränkten Zugang auf fremde Informationen hat.

Alles begann an einem Freitagabend. Es war der letzte im Mai. Ewen MacAskill, der für den britischen »Guardian« in New York arbeitet, wurde zu seiner Chefin Janine Gibson gerufen. Am nächsten Tag saß er mit der Kollegin Laura Poitras in einer Maschine nach Hongkong. Die beiden trafen dort einen jungen Mann, der behauptete, geheime Dokumente zu besitzen. »Der Auftrag war herauszufinden, ob dieser Kerl die Wahrheit sagt oder ob er ein Fantast ist«, erinnert sich MacAskill.

Der »Kerl« heißt Edward Snowden. Er hatte schon seit Monaten verschlüsselte Nachrichten an die Redaktion geschickt. Die Journalisten befragten ihn in einem Hotel, checkten gegen, was sich kontrollieren ließ, und waren sich schon bald sicher, dass es sich bei dem 29-jährigen US-Geheimdienstmitarbeiter um einen Idealisten handelt. Einen, der an die Freiheit der Persönlichkeit glaubt und sie auch ins Internet übertragen möchte.

Die ersten Enthüllungen über Prism und das britische Tempora-Programm führten weltweit zu Erstaunen und Entsetzen. Doch der »Guardian« hatte angekündigt, der einstige NSA-Geheimdienstler und Whistleblower sei bereit nachzulegen.

Was nun hochkam, übertrifft alles bisher Veröffentlichte. Es geht um XKeyscore. Das ist ein Fast-Alleskönner-Spionageprogramm. Es ermöglicht die Abfrage nach Namen, Mailadressen, Telefonnummern und Schlagworten. XKeyscore erlaubt die Echtzeitkontrolle, die NSA ist also - wenn gewünscht - bei allem dabei, was ein Internetnutzer online tut. Die Agenten müssen nur die E-Mail-Adresse eines Menschen oder einer Behörde eingeben, schon liegt die gesamte Kommunikation offen und kann gespeichert werden.

2012 seien in einem Zeitraum von 30 Tagen 41 Milliarden Einträge in der XKeyscore-Datenbank enthalten gewesen, sagt der »Guardian«. Da die Datenmengen so umfangreich sind, dass selbst modernste Systeme rasch »überlaufen«, setzt nach drei Tagen oder einer Woche der Löschungsvorgang ein. Freilich kann man zuvor alles, was wichtig erscheint, herausfiltern und separat speichern. Auf jeden Fall bleiben die Verbindungsdaten noch bis zu fünf Jahren erhalten.

Es gibt für die Spione anwenderfreundliche Masken, in die man Begehrlichkeiten einpasst - und schon werden sie bedient. In der Präsentation, deren Folien Snowden »mitgehen ließ«, sind Beispiele für Abfragen erkennbar: »Zeige mir alle verschlüsselten Word-Dokumente in Iran«, heißt es da. Man kann die Suche einschränken: »Zeige mir die gesamte PGP-Nutzung in Iran.« PGP ist ein System zur Verschlüsselung von E-Mails und anderen Dokumenten. Ein anderer Eingabebefehl lautet: »Zeige mir alle Microsoft-Excel-Tabellen, mit MAC-Adressen aus Irak, so dass ich Netzwerke kartieren kann.«

Von welcher IP-Adresse beliebige Websites aufgerufen werden - kein Problem für die NSA. Auch Google-Suchanfragen sind zugänglich. Verschlüsselung? Ja und? XKeyscore findet jeden Aufbau einer sogenannten VPN-Verbindung. So weiß man zumindest: Aha, da könnte was Interessantes gesendet oder empfangen werden.

Dem System bleiben auch keine Freundeslisten aus sozialen Netzwerken verborgen. NSA-Mitarbeiter können die Inhalte von privater Facebook-Kommunikation sogar nachträglich einsehen. Sie müssten dazu lediglich den Nutzernamen eines Mitglieds eingeben und auswählen, aus welchem Zeitraum sie die Privatgespräche lesen wollen.

Offenbar macht das XKeyscore-System auch Vorschläge, wer verdächtig ist und überwacht werden sollte. Man müsse im Datenstrom nur nach »abweichenden Ereignissen« suchen - also beispielsweise jemanden, dessen Sprache ungewöhnlich ist an dem Ort, an dem er sich aufhält.

Die Daten, die von den NSA-Speicherorten weltweit erfasst werden, lassen sich offenbar zentral durchsuchen. Man kombiniert sie mit anderen Informationen. Auf einer der von Snowden vorgelegten Folien ist aufgeführt, auf welche Datenquellen das System zugreifen kann: »F6-Hauptquartiere« und »F6-Standorte«. F6 steht für den Special Collection Service. Das ist offenbar eine gemeinsame Einheit von NSA und CIA, die unter anderem Botschaften verwanzt. Hinzu kommt abgefangene Satellitenkommunikation.

Auch der deutsche Auslandsgeheimdienst BND und das im Inland operierende Bundesamt für Verfassungsschutz setzen XKeyscore ein. Selbstverständlich nur in Übereinstimmung mit den Gesetzen. Wer›s glauben mag ...

Edward Snowden hat viel erreicht - und sich doch gründlich verkalkuliert. Als er nach Hongkong ging, hoffte er, dass sich die Chinesen vor ihn stellen. Das war ein Fehler. Auch Russland mag den »Verräter« nicht wirklich. Obwohl er gerade Dostojewskis »Schuld und Sühne« gelesen hat.

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