»Die Bewegung muss ihre eigene Öffentlichkeit erlangen«

Richard Herding hat vor 15 Jahren den Informationsdienst kritische Medienpraxis gegründet

  • Lesedauer: 4 Min.

nd: Der Informationsdienst Medienpraxis feiert in diesem Jahr Geburtstag: Vor 15 Jahren haben Sie ihn in Berlin gegründet. Mit welchem Ziel?
Herding: Der ID ist ja hervorgegangen aus dem Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten. Der wurde 1973 in Frankfurt am Main gegründet. Anstoß dafür kam von den Schriften von Jürgen Habermas - vor allem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« aus den 1960er Jahren. Von da aus war es eine logische Folge zu sagen, die Öffentlichkeit solle nicht von Profijournalisten einerseits beherrscht werden und der Öffentlichkeitsarbeit von Organisationen andererseits. Menschen, Aktivisten - die Bewegung - sollten ihre eigene Öffentlichkeit erlangen. Betroffenen-Berichterstattung sozusagen.

Das ist jetzt noch fast genauso relevant wie damals, weil die Medien heute oft zu wenige Ressourcen haben, um selbst gründlich zu recherchieren. Und so wird nur selten mit den Betroffenen selbst gesprochen.

Und das sehen Sie als Ihre Aufgabe im ID Medienpraxis?
Ja. Wir recherchieren eigene Geschichten beispielsweise zu den Themen Hartz IV oder Armut. Wir reden mit Arbeitslosen in Jobcentern oder mit Gentrifizierungsopfern, die geräumt werden, und auch mit Aktivisten, die die Leute unterstützen. Dabei müssen wir natürlich auch aufpassen, dass wir nicht einfach deren Verlautbarungen übernehmen - also auch nur Pressemitteilungen wiedergeben. Die Texte veröffentlichen wir auf unserer eigenen Homepage oder versuchen, sie in etablierten Medien unterzubringen.

Wir werden natürlich überschwemmt von unendlich vielen Themen, bei denen Defizite deutlich sind. Das fing direkt nach der Gründung 1999 mit dem Kosovo-Krieg an. Damals haben wir Vertreter und Vertreterinnen von serbischen Vereinen, die hier in Berlin leben, für eine öffentliche Veranstaltung in der Berliner Volksbühne zusammengeholt, wo die Menschenrechtsverletzungen thematisiert wurden.

Das heißt, Sie schreiben nicht nur selbst Texte, sondern versuchen auch, beispielsweise über Veranstaltungen unterbliebene oder unterbelichtete Themen in die Öffentlichkeit zu rücken. In den 1970er Jahren hat der Informationsdienst noch tatsächlich Betroffenen-Berichterstattung gemacht - Sie haben nicht über marginalisierte Gruppen geschrieben, sondern die haben selbst geschrieben.
Genau. Es ging ja darum, denen Öffentlichkeit zu verschaffen, die keine haben. Das Heft erschien damals wöchentlich mit 15 bis 20 Seiten. Die meisten Inhalte waren Originaltexte, zum Beispiel Informationen von Dritte-Welt-Soligruppen oder Statements von Knastinsassen. Wir hatten aber auch Recherchestücke darin beispielsweise zu Heckler & Koch.

Das hat Sie gereizt, deshalb sind Sie zum ID gegangen?
Ich habe für das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main gearbeitet und war außerdem in der Gruppe Revolutionärer Kampf, den sogenannten Frankfurter Spontis. In der Gruppe war auch Daniel Cohn-Bendit, der eines Tages kam und sagte: »Die vom Institut müssen mal was Vernünftiges machen.« Das hat mich überzeugt. Ich habe mich dann umgesehen und bin 1978 zum ID gegangen.

Cohn-Bendit hat Sie also politisiert?
Naja, so leicht wäre das natürlich nicht gewesen, wenn wir am Institut nicht auch schon entsprechende Themen bearbeitet hätten. Aber Cohn-Bendit hat einen Schritt von der Theorie zur Praxis angestoßen.

Obwohl Journalismus ja auch eher ein sich Heraushalten aus der Praxis ist. Verstehen Sie sich als Aktivist?
Ich verstehe mich als aktiver oder engagierter Journalist - aber nicht als Aktivist. Die wenigen Male, bei denen ich als Aktivist unterwegs war, zum Beispiel bei Hausbesetzungen in Frankfurt am Main, habe ich das persönlich als zu frustrierend empfunden. Tage- oder wochenlang bereitet man eine Aktion oder Demonstration vor, sucht Adressen, geht in den Kopierladen. Und dann dauert die Demo nur zwei Stunden, auf die 80 Leute kommen, obwohl man mit 500 gerechnet hat.

Die einzige Gefängniszelle, in der ich eingesessen habe, war im Frankfurter Nulltarif-Kampf um öffentliche Verkehrsmittel. Die ist mittlerweile zu einem Museum für Gefängnisneubauten geworden - man kann sie sich also anschauen.

Wieso haben Sie da gesessen?
Angeblich wegen tätlichem Angriff auf Polizeibeamte, aber das streite ich ab. Ich habe den allergrößten Respekt vor Aktivisten. Aber ich unterstütze sie lieber, als selbst aktivistisch zu sein.

Einmal habe ich zum Beispiel über einen türkischen Arbeiter geschrieben, der abgeschoben werden sollte. Das wurde letztlich verhindert. Jahre später kam seine Tochter zu mir, die mir erzählte, in der Familie gehe die Geschichte, der Richard vom ID habe ermöglicht, dass die Familie in Deutschland bleiben konnte. Da fühlt man sich natürlich in seinem Engagement bestätigt.

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