Hasardeure des Selbstvertrauens

Wo andere verzweifeln, erproben sie Möglichkeiten

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 7 Min.
Alexander Zahn ist ein Multitalent und so auch verantwortlich für die hauseigene Brauerei.
Alexander Zahn ist ein Multitalent und so auch verantwortlich für die hauseigene Brauerei.

In einer Zeit, in der Kulturhäuser geschlossen werden, bauen wir ein neues auf.» Wie bitte? Was für ein Satz! Der Gedankenschleifen befeuert. Der den frustrierten Bürger an Fesseln der Alternativlosigkeit zerren lässt. Alexander Zahn spricht ihn zwischen brandgeschwärzten Mauern, unter freiem Himmel.

Das Objekt, das von einer Gruppe junger Leute erschlossen wurde, liegt in der Nähe des Berliner Ostkreuzes, auf der Seite, wo der Wasserturm steht, in der Laskerstraße 5. Es gehörte einst dem Progress-Filmarchiv. Nach dem Epochenwechsel zog ein recht zwiespältiger Technoklub ein; harte Rhythmen, heiße Joints. In dieser Zeit brannte der hintere Teil des Gebäudekomplexes ab.

Die vorderen Räume blieben erhalten. Aber wie sahen sie aus! Auf solchem Grundstück ein Kulturhaus «bauen»? Was wörtlich aufzufassen ist. Ja, völlig verrückt, sagten sich die Freunde. Aber wo bekommt man in der kommerzialisierten Metropole noch einen Freiraum, in dem man sich entfalten kann, wie einem zumute ist? Über Monate wurde entrümpelt, Schutt gekarrt, wurden Dächer geflickt, Wasserrohre eingegraben. Inzwischen ist aus dem ruinösen Flachbau eine Adresse der Kulturszene geworden: «Haus Zukunft». Es gibt das Kino mit zwei kleinen Spielsälen, das Freiluftkino Pompeji (schöne Anspielung!), Schankraum mit Tresen, den Biergarten, eigene Brauerei, eine Bildergalerie und - jüngste Krönung - ein Theater.

Das alles aus eigener Kraft und ohne Fördermittel! Wie ist das möglich?

Keimzelle des Ganzen waren die Tilsiter Lichtspiele in Berlin-Friedrichshain, die 1994 aus ehemaligen Lagerräumen zu neuem Leben erweckt worden sind. Zwar schon viermal als vorbildliches Programmkino ausgezeichnet, wurde der damals noch recht jungen Crew die alte Spielstätte (alles in allem 106 Jahre Filmgeschichte) irgendwann zu eng. Sie dachten an einen zweiten Aufführungsort, doch sie hatten auch schon ein erweitertes Konzept im Kopf. Der Besitzer des Grundstücks wurde ausfindig gemacht, ein in Berlin lebender Münchner. Wird er das zu keiner Unternehmensphilosophie passende Projekt eines selbstbestimmten, kollektiv geführten Kulturangebots gutheißen? Er war nicht erschrocken. Verkaufen wollte er nicht, weil in der Wohn- und Indus-triebrache keine Rendite zu erzielen ist. Filmkunst kombiniert mit einer Bar, das gefiel ihm, und als er etwas von Biergarten hörte - Münchner Mentalität! - gewährte er einen Mietvertrag über 15 Jahre zu einem fairen Preis. Mit einem Euro Kapital wurde eine GmbH gegründet.

Ein Kino eröffnen und betreiben ist heutzutage abenteuerlich, sagt Alex. Wir sitzen am Tresen, und Lioba, die es aus Bayern nach Berlin verschlagen hat, zapft helles oder dunkles Bier aus der eigenen Brauerei. «Ohne Gastronomie geht gar nichts. Letztlich muss Geld reinkommen für die Kultur.» Aber die Kohle sei nicht so entscheidend, wenn man was Neues anfangen will. «Was man braucht ist Enthusiasmus, Menschen, die bereit sind anzupacken, die Möglichkeiten erproben wollen.» Freilich, die Leute müssen leben, manche überleben. In vollen Lohn genommen wird zuerst, wer es am nötigsten hat. «Das ist auch ein soziales Experiment.»

Zunächst konzentrierte sich alles auf die beiden Kinosäle plus Ausschank. Das Gestühl konnte, gut erhalten, auf dem Gebrauchtmarkt gekauft werden. Zeitgleich wurden die Galerieräume hergerichtet. Eine Kuriosität osterfahrener Findigkeit: Je Kinokarte (humane 4,90 Euro) werden 30 Cent Kulturfonds erhoben, und - wunderbar! - die Besucher akzeptieren das. Mit dem zusätzlichen Obolus wird die jedem Gast offenstehende Galerie finanziert. Mittlerweile rauschen täglich vier Filme über die Leinwand. Keine Trivialität, die meisten Digitalfilme sind nach einer amerikanischen Norm verschlüsselt und können nur über spezielle, sehr teure Maschinen abgespielt werden. «Die EU hatte nicht den Mut, die Unterschrift zu verweigern, um hiesige Produzenten und die traditionellen Kiezkinos zu schützen. Ein Vorgeschmack darauf, was uns das Freihandelsabkommen TTIP bescheren könnte,» meint Alex, ein Lächeln im Gesicht, das man als anarchistische Heiterkeit deuten könnte. Derzeit nutzt das Kino ein eigenes, mit deutschen Verleihern abgestimmtes Digitalsystem.

Lioba hat ihren Tresendienst beendet und setzt sich mit dem Laptop neben uns. E-Mails lesen, schreiben, Musiker heranziehen. Sie ist für das Folk-Programm verantwortlich, jeden Sonntag live. In den verwegenen Kreis geraten ist sie zufällig, als sie bei Dreharbeiten für einen Dokumantarfilm half. Ihr bisheriger Weg: Abitur, freiwilliges soziales Jahr für eine Nichtregierungsorganisation, Filmpraktikum. Das Bewerbungsgespräch an der Filmhochschule war ein Flop. «Hier habe ich mich von Anfang an wohlgefühlt», sagt sie. «Das Personal ist herzlich. Es gibt keine Hierarchien. Jeder macht, was er kann.» Nebenbei gibt sie Englischnachhilfe. Sie hat geputzt, hat Fliesenlegen gelernt, backt Kuchen für die Gäste, war die «gute Fee» als Assistentin bei einer Theateraufführung. «Das hier ist meine Heimat», sagt sie. Und was von fast jedem Insassen des Hauses zu hören war: «Ich mag verschiedene Tätigkeiten.»

Jakob kommt vorbei, ein schlanker Typ, einnehmend helle, grüne Augen, Softbart, zerschlissene Jeans. Für ein Festival am Wochenende ist noch einiges abzustimmen. Jakob hat den besten Überblick, er koordiniert die vielfältigen Programme. Seine Geschichte: Psychologiestudium begonnen, Enttäuschung, er hörte alles andere, als er sich vorgestellt hatte. Drei Jahre Physikstudium an der Technischen Universität. Aber das schmeckte ihm auch nicht. Sehnsucht nach praktischem Tun. In der Laskerstraße hat er als Bauhelfer angefangen, mit der Schaufel in der Hand für zehn Euro die Stunde. Sich arbeitslos melden mochte er nicht. «Ich wollte mich nicht der Bürokratie ergeben.» Dieser Abscheu gegen Papierkram und formalen Zwang begegnet einem hier mehrmals. Was ihn am «Haus Zukunft» fasziniert ist «das Chaotische und wie man es hinkriegt, dass es gestaltbar wird».

Alle in der bunten Truppe haben einen Berufsabschluss oder etwas studiert, manche mehreres. Unübertroffenes Multitalent: Alexander Zahn. Elektromechaniker mit Abi auf dem zweiten Bildungsweg. Bis seine erste Tochter geboren wurde etliche Semester Philosophie, Informatik, Theaterwissenschaft, Quantenphysik. «Ich war halt neugierig.» Seit einem Jahr kann er schweißen, erforderlich, um die Brauerei zusammenzubauen. Maischekocher und Kühlaggregate wurden zum Schrottwert von bayerischen Milchbauern gekauft, die aufgeben mussten. Alles andere: Geschick und Handarbeit.

Im Biergarten kann man Kalle treffen, dunkle Haarmähne, schwarzes T-Shirt, schon ein kleiner Bauchansatz, über den er sich ärgert. Ihm ist der «Tiefgrund» anvertraut: dreimal in der Woche Rock. Bands aus den meisten europäischen Ländern, dazu Israel, USA. Eigentlich ist er diplomierter Betriebswirt. Sein Studium war auf Medien fokussiert. Deshalb ist er nach einem Volontariat bei der dpa Fotograf geworden, hat für die «Berliner Zeitung», auch fürs «ND» fotografiert. Als die digitale Knipserei aufkam, fand er seinen Job nicht mehr romantisch genug. Jetzt kümmert er sich um die Tontechnik im Objekt und - Bassgitarrist seit langem - organisiert die Rockkonzerte. Jazz hingegen findet im Gastraum oder zwischen den Mauerresten statt, die das Freiluftkino umgrenzen. Soul, Blues, Swinging Jazz, Flyjazz, alles vertreten.

Das Terrain ist gut besucht. Eine tolle Mischung zwischen Teenies, Mittvierzigern und älterem Publikum. Das kommt dem Kulturhausgedanken sehr nahe, meint einer, der sich auch für die jüngste Spielwiese solchen Zulauf wünscht. Er steht auf der Leiter und richtet Scheinwerfer. Kai Lange ist primus pares fürs Theater. In kulturell ausgewogeneren Zeiten hat er als Dramaturg und Regisseur in Schwedt, Rudolstadt, Altenburg genug Erfahrung gesammelt, um ein so schwieriges Stück wie «Das kurze Leben» von Reiner Groß mit Bravour zu inszenieren. Sie nennen es «post-optimistische Komödie». Zwei Männer ungewisser Herkunft begegnen sich am Stadtrand, Klatt und Lachtainnen. Sie streiten, wo wessen Platz in der Welt ist. Getriebene, die mit sich selbst nicht klarkommen. Wie Dolores, die von ihrem Liebhaber aus dem Wagen geworfen worden ist. Sie versuchen, in Fantasien Halt zu finden. Was ihnen nicht gelingt. Lügen oder Wirklichkeit? Die Wertung ihrer Eskapaden bleibt offen.

«Wir wollen ein transparentes Theater, das gegenwärtige Widersprüche thematisiert», sagt Kai Lange. Bevorzugt werden zeitgenössische Autoren mit neuen Stücken, «wie das bei den Griechen der Fall war». Der Raum hat noch den morbiden Charme putzlosen Gemäuers, der immer auch Geschichte emittiert. Vor der Premiere haben die Do-it-yourself-Fanatiker eine Fußbodenheizung verlegt, Estrich aufgetragen, so dass nun auch im Winter gespielt werden kann. «Tatkraft ist das Zauberwort und Selbstvertrauen die Basis für Erfolg», schwärmt Lachtainnen. Die Akteure in der Laskerstraße halten sich daran. Sie praktizieren schon eine Art kollaborative Common, wie sie Jeremy Rifkin für künftige Schaffensweisen beschrieben hat: «Haus Zukunft».

www.zukunft-ostkreuz.de. Nächste Aufführung von «Das kurze Leben» am 30./31. Oktober und 22. November, 19.30 Uhr.

Kai Lange führt Regie: »Alles doppelsinniges Spiel.«
Kai Lange führt Regie: »Alles doppelsinniges Spiel.«
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