Eine Monatskarte würde 30 Euro kosten

Linksfraktion im Parlament entwickelt ein Konzept für den fahrscheinlosen Öffentlichen Personennahverkehr

  • Lesedauer: 5 Min.
Über die Entwicklung eines fahrscheinlosen Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) für Berlin sprach mit Harald Wolf, dem verkehrspolitischen Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Martin Kröger. Die Grundidee verfolgte bereits die damalige PDS in den Neunziger Jahren. Danach verschwand das Vorhaben. Heute findet sich der solidarisch finanzierte ÖPNV im Bundesprogramm der LINKEN wieder. Auch die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen plant ein Pilotprojekt.

nd: Die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus ist dabei, ein Modell für ein solidarisch finanziertes Berlinticket zu entwickeln. Was verbirgt sich hinter diesem Konzept?
Wolf: Unser Ausgangspunkt sind zwei Dinge. Erstens wollen wir den Öffentlichen Personennahverkehr stärken, weil es die einzige Verkehrsform ist, die für alle Bürgerinnen und Bürger in dieser Stadt zugänglich ist. Wir wollen eine deutliche Steigerung des Anteils des Öffentlichen Personennahverkehrs am Gesamtverkehr. Und zweitens wollen wir, dass er für alle erschwinglich wird. Denn vom Grundsatz her ist der ÖPNV zwar für alle zugänglich, aber viele, die Transferleistungen empfangen, die im Niedriglohnbereich arbeiten oder die eine kleine Rente haben, müssen sich häufig überlegen, »kann ich mir diese oder jene Fahrt noch leisten«.

Was für ein Rechenmodell legen Sie zugrunde?
Wir stehen noch am Anfang der Diskussion. Das, was wir bisher haben, ist reine Modellrechnung, das ist noch keine Konzeption. Die Grundidee ist: Jeder Einwohner und Einwohnerin von Berlin zahlt im Grundsatz einen Beitrag für den Öffentlichen Personennahverkehr und bekommt dafür ein Berlinticket zur Verfügung gestellt, mit dem er/sie den Öffentlichen Personennahverkehr im Stadtgebiet unbegrenzt nutzen kann.

Das Ticket gilt also in den heutigen Tarifbereichen AB?
Genau. Schließlich wäre es im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) noch komplizierter, weil dann viele kleine Brandenburger Gemeinden und Kreise dabei wären.

Wie teuer wäre das Berlinticket?
Der Beitrag muss nach der Leistungsfähigkeit bemessen werden: Kinder unter sechs Jahren zahlen jetzt im ÖPNV nichts, die werden auch künftig befreit sein. Außerdem haben wir die Ermäßigungen prozentual zugrunde gelegt, die gegenwärtig existieren. Das heißt, bei dem Sozialticket circa 60 Prozent und beim Schülerticket 20 Prozent des Normalpreises. Das Ergebnis ist, dass für das normale Monatsticket weniger als die Hälfte des jetzigen Preises gezahlt werden müsste, der derzeit im Jahresabo bei knapp 62 Euro pro Monat liegt. Wie genau das am Ende aussieht, muss im Detail besprochen werden. Fest steht: Es wäre eine drastische Reduzierung des Fahrpreises möglich.

Als internationale Metropole kommen viele Besucher und Touristen hierher, täglich pendeln Zehntausende, für die gilt das Ticket nicht?
Die müssten weiterhin Fahrscheine kaufen, seien es eine Touristenkarte oder Einzelfahrscheine. Das Gleiche gilt auch für Pendler.

Wie erklären Sie älteren Menschen, die vielleicht gar nicht mehr 30 Euro im Monat für Mobilität ausgeben wollen, die Vorzüge eines solidarisch finanzierten ÖPNV?
Weil die dann weniger zahlen müssen. Eine einzige Hin- und Rückfahrt in der Woche mit dem Einzelfahrschein ergeben im Monat schon eine Summe von 20,80 Euro. Und Für Rentnerinnen und Rentner wird es eine Ermäßigung des Jahresbeitrages geben und dann kann ich für einen geringeren Betrag unbegrenzt mobil sein. Und gleichzeitig muss die Attraktivität des ÖPNV gesteigert werden. Stichwort: Barrierefreiheit durchgängig herstellen. Zudem müssen auch die Taktzeiten verbessert werden und mehr Busse und Bahnen eingesetzt werden. Dazu muss Berlin mehr investieren. Das steigert aber die Lebensqualität in der Stadt: Es gibt weniger Lärm und Schadstoffbelastung, wenn der Autoverkehr reduziert wird.

Gibt es Beispiele, wo das in der Praxis probiert wurde?
Die gibt es. Aber keine dieser Städte ist mit einer Metropole wie Berlin vergleichbar, weder von der Größe noch vom Verkehrssystem. Das nächstliegende Beispiel ist Templin in Brandenburg, die allerdings nur drei Buslinien hatten und auch keine Gegenfinanzierung. Am Ende wurde das wieder eingestellt. Im französischen Aubagne stiegen die Fahrgastzahlen um 62 Prozent an. Im belgischen Hasselt stiegen sie in zwölf Jahren um das Zwölffache. Auch in der estnischen Hauptstadt Tallin stiegen die Fahrgastzahlen im ersten Jahr um drei Prozent, obwohl die Ticketpreise für den gut ausgebauten ÖPNV schon vorher sehr niedrig waren.

Würde das Berlinticket für alle auch die Problematik des Schwarzfahrens entschärfen? Bei der BVG wurden im vergangenen Jahre 34 850 »Fahrscheinlose« registriert, fast fünf Mal so viele wie 2013. In den Gefängnissen sitzen viele ein, weil sie die Bußgelder nicht zahlen können.
Schwarzfahrer gäbe es nur bei denjenigen, die Einpendeln oder Touristen sind. Entsprechend könnten auch die Kontrolle reduziert werden und wieder mehr Leistungen in den Service fließen. An dieser Stelle könnten auch die Justizvollzugsanstalten von unsinnigen Freiheitsstrafen entlastet werden.

Die LINKE als Oppositionspartei braucht bei solchen Konzepten Bündnispartner. Haben Sie diese?
Wir planen einen Workshop mit den Verbänden aus diesem Bereich. Und mit den großen Verkehrsunternehmen BVG und S-Bahn. Es geht um breite gesellschaftliche Diskussion. Und darum, das Konzept zu schärfen und Detailfragen zu klären. Ähnliche Ideen gibt es ja auch bei den Grünen und den Piraten.

Haben Sie gar keine Bedenken, dass Sie mit dieser Idee wie 1995 auf einem Landesparteitag erneut scheitern könnten? Damals wischte Gregor Gysi den Vorschlag vom Tisch.
Nein, der Vorschlag war nicht vom Tisch. Die Forderung nach einer Nahverkehrsabgabe wurde beschlossen und hat Eingang in unser Wahlprogramm 1995 und 1999 gefunden. Damals aber in einer anderen Ausgestaltung als heute. Die Forderung nach einem fahrscheinlosen ÖPNV ist Bestandteil des Bundesprogramms der LINKEN. Im Übrigen geht es im Moment nicht um eine Beschlussfassung, sondern wir wollen eine breite gesellschaftliche Diskussion mit den Initiativen, Verbänden und den Verkehrsunternehmen, sowohl über Chancen als auch Risiken eines solchen Modells.

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