Was erlaube Strunz?

Was wäre, wenn plötzlich alle BWL studierten? Neues vom Hyperopportunismus, dem Utopieverbot und der Anbetung des freien Marktes. Von Felix Bartels

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 7 Min.
Aus der Tageszeitung »Die Welt« konnte man kürzlich die Klage vernehmen, Geisteswissenschaftler hätten hierzulande »für alles 
studiert, nur nicht für den Markt«. Dabei sei ein Hochschulstudium kein »Selbstfindungstrip«. Es gehe vielmehr ums Geldverdienen und Markttauglichkeit. Studenten, »die Begriffe wie Marktangebot und -nachfrage zu spät begriffen« haben, brauche niemand. Ist das so?

Es gibt Menschen, die gewohnheitsmäßig ihre Probleme zu Problemen von anderen machen. Säuglinge gehören unbedingt in diese Gruppe. Säuglinge und unerfreulich viele Journalisten. Der bald erwachsene Filipp Piatov z.B. hat in der »Welt« vom 15.5. eine Denkschrift gegen das Studieren von Geisteswissenschaften hinterlassen (»Wer das Falsche studiert, wird keinen Job finden«). Sein Vortrag hat den Charme einer Registrierkasse, und die Motivation bleibt kaum verborgen. »Jahrelang musste ich mir anhören«, erläutert der Autor auf Facebook, »wie spießig mein BWL-Studium doch ist.« Darf man sich vorstellen, wie er auf sprudelnden Festen abseits stand, indessen andere seines Alters mit Plänen zum ersten Roman oder geistreichen Exkursen punkten? Darf man bei dem Satz »Das Studium ist kein Selbstfindungstrip« an das szenische Bedauern von Funny van Dannens Anita denken, an den Hohn des Aufsteigers? Wie meistens versäumt Piatov auch in diesem Text nicht, darauf hinzuweisen, dass er Kind von Einwanderern ist. Jeder trägt einen Mythos über sich spazieren, der das eigene Trachten untermauert. Und gerade demjenigen, der sich schwer tut, sein Trachten in theoretische Form zu bringen, hilft es, wenn er das, was er vertritt, wenigstens verkörpert. Piatovs Biographie soll mitteilen: Deutschland ist ein kerngesundes Land; hier kann jeder Tüchtige Erfolg haben. Und kein Zweifel, dass die eigenen Entscheidungen unbedingt auch jedermanns Entscheidungen sein müssen.

Die Bewegung, in der Piatov mitläuft, die ich »Neos« nennen will, leidet an einer Art Hyperopportunismus, der die Unterwerfung unter das Kapitalverhältnis aus nicht bloß pragmatischen Gründen fordert, sondern aus solchen des Herzens. Eine brachiale Utopie des Freien Markts wird von einem rigorosen Utopieverbot flankiert, das jeglichen Anspruch des Menschen zurückweist, den Stoff der Geschichte nach seinem Willen zu formen. Das Bekenntnis zur Freiheit ist eins zum Bestehenden und richtet sich gegen die gelebte Freiheit, die ja allererst dort erkennbar wird, wo sie mit dem Bestehenden kollidiert. Das klingt widersprüchlich, weil es widersprüchlich ist. Alle Ideologien sind paradox. Piatov tanzt diese Schrittmuster fort, und einiges von dem, was ich allgemein beschrieben habe, wird in seinem Text sehr anschaulich. Ich schäme mich daher nur ein wenig, eine Bewegung bei ihrem Fußvolk zu packen. Man kommt so schneller auf die Pathologie und läuft doch stets Gefahr, zugleich etwas übergreifende Fußvolkpathologie mit drin zu haben. Das Spezifische einer Bewegung erfasst besser, wer sich ihre besten Vertreter ansieht. Doch wer sagt denn, dass man immer fair sein muss?

Untertanensprech

Mitte des Monats erregte im Springerblatt »Die Welt« ein Artikel des »Wirtschaftsstudenten« Filipp Piatov einiges Aufsehen in den sozialen Netzwerken (»Wer das Falsche studiert, wird keinen Job finden«. In: »Die Welt«, 15. Mai 2015). Darin lamentiert der 24-jährige Piatov unter anderem darüber, »dass eine eher marktfeindliche Stimmung in Deutschland den Leistungsgedanken schwächt«, und fordert, dass der arrogante Geisteswissenschaftsstudent und »angehende Jungintellektuelle«, dem empörenderweise so wichtige Dinge wie Geld und die Wünsche der deutschen Wirtschaft schnuppe seien, sich gefälligst anpassen möge an den reibungslos flutschenden kapitalistischen Dauerbetrieb: »Bei Semesterbeiträgen von wenigen Hundert Euro hat es niemand nötig, sich um die eigentlichen Kosten des Studiums sorgen.«
Über den Autor, der in seinem Studium den Infinitiv nicht gelernt hat, dafür aber offenbar viel vom Buckeln, Anpassen und Einverstandensein, erfährt man, dass er »in Sankt Petersburg geboren« ist und »mit seinen Eltern als Kind nach Deutschland kam«.
»nd«-Kolumnist Leo Fischer kommentierte Piatovs Artikel kurz nach dessen Erscheinen mit folgenden Worten: »Stolz aufs bedingungs- und widerstandslose Funktionieren, von keinem Gedanken getrübtes Nachplappern des allgegenwärtigen Leistungs- und Untertanensprechs, dazu noch der Schmalz vom armen Russenbuben, der von gütigen Deutschen hochgepäppelt wurde – es ist schon alles ein rechter Graus.«
Im nebenstehenden Artikel antwortet nun unser Autor Felix Bartels auf Piatov. Wer mehr und Genaueres über den neueren Konservatismus erfahren will, der sich in den letzten Jahren überall breit macht und fortwährend neue Adepten hervorbringt, dem sei zur Lektüre der folgende Essay von Felix Bartels empfohlen: »Blümchenkinder. Zum Verhältnis von Provokation und Programm im Neueren Konservatismus«. Zu finden ist der Text hier: http://www.felix-bartels.de/2015/ 05/05/bluemchenkinder/

Piatovs Text ist ranschmeißerisch und platzt beinahe vor serviler und beflissener Lexik. Es ist die Rede davon, dass das Studium zu einem »echten Job« führen müsse (und man darf wohl ahnen, welche Jobs für so ein neoliberales Seelchen echt und welche unecht sind). Das Problem der Geisteswissenschaftler sei, so lehrt es weiter, dass sie alles studiert haben, nur nicht den Markt (weil ja praktisch jeder, der in der Wirtschaft arbeitet, auch Wirtschaft studiert hat). Wessen Studium nicht zur Karriere führe, der hat nicht bloß einfach eine falsche Wahl getroffen, er hat »das Falsche« studiert. Piatovs Freunde hingegen sind »gefragte Experten«, keine Akademiker, nein, Unternehmensberater und so. Der Leistungsgedanke sei in Deutschland dennoch traurig selten. Unendlich wichtig auch: »die Schuldfrage«, ehe die nicht geklärt, geht kein Auge zu, und die Schuld liegt immer beim Einzelnen und seiner Einstellung. In diesem Bewerbungsdeutsch wälzt sich der Text über seine Leser hinweg.

Noch gut, wenn dergleichen bloß einer krämernden Seele entspringt. Für Langweiler immerhin spricht, dass ihnen Sendungsbewusstsein zumeist abgeht. Erst, wo Anspruchslosigkeit allgemein zu werden wünscht, wird sie lästig. Jener Hyperopportunismus, von dem die Rede war, lebt genau an dieser Schnittstelle auf: Wo einer aus Angst, enttäuscht zu werden, gar nichts mehr will, und wo er diese ureigene Ratlosigkeit zur sittlichen Forderung erhebt. So setzt sich der Frust über die eigene Verzichtsleistung direkt um in die Forderung, die anderen sollten ähnliche Opfer bringen oder doch wenigstens nicht den Anspruch erheben, dennoch Karriere zu machen. Und wie ich an den Neos überhaupt gezeigt habe, gehört auch bei Piatov die Naturalisierung des Gesellschaftlichen zum Rüstzeug. So teilt er mit, dass der Wegfall von Studiengebühren eine »unnatürliche Verschiebung der Anreize« bewirkt habe. Wenn junge Menschen sich hoch verschulden und mit der Angst um die Existenz im Nacken studieren, ist das natürlich. Wenn sie sich die Zeit nehmen, die sie manchmal brauchen, um herauszufinden, was sie wollen und können, ist das unnatürlich.

Überhaupt ist der Text sehr geerdet. Ein emphatischer Begriff des Praktischen zieht fast zwingend eine antiintellektuelle Haltung nach sich. »Ich begnügte mich ganz bodenständig mit Finanzen, Rechnungswesen und Statistik.« Und eben so, als bemerke er selbst, was die Setzung des Praktisch-Authentischen gegen das Ideell-Geistige bedeutet, schickt er den Verdacht vorweg, Studenten der Geisteswissenschaften studierten wohl nicht aus Interesse, sondern aus patriotischen Gefühlen. Das kann unser blut- und -bodenständiger Ökonom zwar nicht begründen, doch eine Ablenkung muss ja bloß ablenken und nicht auch noch Sinn ergeben.

Was hat der Mann? Ein Problem mit brotlos spekulativen Denkübungen, mit dem Wissenschaftsbetrieb oder schnöde mit Menschen, die tun, was ihnen gefällt? Die ein paar Jahre noch das Leben genießen und hochgesteckte Ziele verfolgen, Musiker, Wissenschaftler oder Schriftsteller werden wollen, ehe sie sich am Ende wohl doch dem Markt beugen. So ein kleiner Mensch, so viel Wut. Strunz! Is’ zwei Jahre hier, is’ immer verletzt! Was erlaube Strunz?

Nur stimmt es dann noch nicht einmal. Geisteswissenschaftler finden nicht bloß an Universitäten, Stiftungen, Instituten, Museen, als Lehrer oder Selbstständige, an Theatern, bei Verlagen oder im Buchhandel Arbeit. Sie sind überall auf dem Arbeitsmarkt, wo der Quereinsteiger längst keine Randerscheinung mehr ist. Nicht vor allem sie landen am Ende in der Arbeitslosigkeit, sondern die von ihnen schließlich doch verdrängten unteren Schichten. Und was überhaupt wär denn die Folge, wenn mit einem Mal alle BWL studierten? Täte das irgendwas am Ungleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt? Man muss wohl BWL studiert haben, um das tatsächlich zu glauben. Oder auch nur ein Interesse pflegen, durch alberne Anklagen, z.B. gegen Studenten, von strukturellen Makeln der Gesellschaft abzulenken.

Nur einer, der ausschließlich in ökonomischen Werten denkt, kann ein Studium der Geisteswissenschaften, dem keine Anstellung folgte, als nutzlos ansehen. Dem kann Studium nie etwas anderes sein als eine dienstbare Einrichtung der Wirtschaft. Das puritanische Gemüt sieht die zahllosen Absolventen, die hinterher etwas anderes machen, am Ende gar umlernen müssen, und wo unsereinem nicht mehr als ein »und wenn schon« einfiele, zürnt es über verschwendete Lebenszeit, die noch nicht mal die eigene ist.

Studium aber, kann man sagen, ist Zeit. Und gleich in dreifacher Hinsicht. Es ermöglicht erstens eine Vermenschlichung des Menschen durch eine Ausbildung über das hinaus, was er unmittelbar zum Überleben braucht. Das ist der Wert, den die Studienzeit selbst besitzt. Es steht zweitens für die Zeit, die einer benötigt herauszufinden, was er will und wo seine Talente liegen. Das ist der Wert, den die Studienzeit als Vermittlung zweier Lebensphasen hat. Es gibt Herbstnaturen, Menschen, bei denen der Knoten später platzt. Manche von denen leisten am Ende Herausragendes. »Das Studium ist kein Selbstfindungstrip«? - Doch, Filipp, isses. Und drittens ist Studium die Zeit, die der Wissenschaftsbetrieb braucht, um herauszufinden, wer für ihn taugt und wer nicht. Adam Smith schreibt im »Wealth of Nations« (I-10-1), dass eine Ausbildung zum Schuhmacher wohl jeder, der sie antritt, bewältigen könne, während im Studium der Rechte nur 1 von 20 soweit komme, dass er davon leben kann. In den Geisteswissenschaften funktioniert es ähnlich, nur dass aus der 20 vermutlich eine 100 geworden ist. Geisteswissenschaft auf hohem Niveau zu betreiben, ist schwer. Es bedarf eines hinreichend großen Pools von Anwärtern, um überhaupt so etwas wie eine wissenschaftliche Elite bilden zu können. Das ist für einen, der BWL studiert hat, sicher schwer vorstellbar; die BWLer sind ja unsere Schuhmacher.

Ich meine das nicht abfällig. Jeder braucht Schuhe und freut sich, wenn ihm einer welche macht. Nur die Welt lasse ich mir dann doch besser von jemand anderem erklären.

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